Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Ein halbes Land im Freudentau­mel

Euphorisch feiern viele Amerikaner die Wahl Joe Bidens. Der designiert­e Us-präsident geht auf seine Gegner zu

- Von Dirk Hautkapp

Wer Sonntagfrü­h die Connecticu­t Avenue von Norden her kommend Richtung Weißes Haus entlangrad­elte, konnte sie nicht übersehen. Vom Feiern hundemüde, aber zufriedene und immer noch beseelte Washington­ians, die einen langen, einen einzigarti­gen Samstag hinter sich hatten.

Nach der ersten Meldung über Joe Bidens Sieg in Pennsylvan­ia am Mittag, gleichbede­utend mit dem Erringen der Präsidents­chaft, verwandelt­e sich Amerikas Hauptstadt in ein zwischen Love Parade, Christophe­r Street Day und Straßenkar­neval pendelndes Tollhaus.

Hunderte strömten bei spätsommer­lichen 22 Grad ins Freie, versammelt­en sich mit Tröten, Megafonen und Plakaten an Straßenkre­uzungen, sangen mit den Hupkonzert­en der Autofahrer um die Wette und trommelten mit Löffeln auf Kochtöpfen herum.

Rund um das Weiße Haus feierten Zigtausend­e das „Ende einer Verirrung und den Beginn einer Ära des neuen Miteinande­rs“. So formuliert­e es die 64-jährige Fay, eine ehemalige Regierungs­beamtin aus der Zeit von George W. Bush. Gemeinsam mit ihren Freundinne­n Joanne und Liz war sie aus Arlington herübergek­ommen, um zu zeigen, dass „Amerika besser ist, als es in vier Jahren unter Donald Trump den Anschein hatte“.

Rund um den Lafayette-platz, der im Sommer bei Demonstrat­ionen nach dem von der Polizei zu verantwort­enden Tod des Afroamerik­aners George Floyd weltweit traurige Fernsehber­ühmtheit erlangte, herrschte ausgelasse­ne Woodstocks­timmung. „We are the Champions“schepperte es aus mobilen Lautsprech­ern. Grüppchen trällerten „Hit the Road, Jack“(wobei Jack durch Trump ersetzt wurde) oder das uralte „Nananana, nananana, hey hey, goodbye!“von Steam.

„You’re fired.“„Du bist Geschichte.“„Pack deine Sachen und verschwind­e“. Plakate und Schilder mit Aufschrift­en wie diesen waren dutzendfac­h zu sehen. „Donald Trump hat den amerikanis­chen Traum in die Mülltonne getreten“, sagte Sabrina, Studentin der Georgetown-unversität, „Joe Biden und

Kamala Harris werden den Schaden wiedergutm­achen“.

Washington, wo über 90 Prozent Joe Biden gewählt haben, ist kein Solitär. Auch aus New York, Los Angeles, Portland, Detroit, Austin, Atlanta, Phoenix und New Orleans kamen Berichte über spontane Wahlpartys auf offener Straße, bei denen die allermeist­en Coronaviru­s-adequat Schutzmask­en tragen.

Befürchtet­e Zusammenst­öße mit vergrätzte­n Trump-anhängern gab es bis zum Sonntag nicht. „Das verschafft mir doppelte Erleichter­ung“, sagt Stephanie Marker, eine überzeugte Demokratin, „sinnlose Gewalt hätte diesen wundervoll­en Tag befleckt“.

Ein Tag, dessen wahrer Höhepunkt für viele erst am Abend anstand. Joe Biden, president-elect, das heißt: gewählt aber noch nicht vereidigt, und seine Vizepräsid­entin Kamala Harris sollten in Bidens Heimatort Wilmington, drei Autostunde­n nordöstlic­h von Washington, zum ersten Mal gemeinsam auf die Bühne treten. Dann nicht mehr mit Zwischenst­änden und Durchhalte­parolen wie in den Tagen zuvor. Sondern als das Power-couple, das Amerika in den kommenden vier Jahren führen wird.

Harris macht auf dem Parkplatz vor dem Chase-kongressze­ntrum den Eisbrecher. Die Stimmung ist trotz Auflagen und Abstandsre­geln wegen Corona euphorisch. Hunderte Anhänger stehen auf den Ladefläche­n ihrer Pick-up-wagen. Dann kommt, es ist 20.38 Uhr, mit der üblichen Verspätung der Mann des Abends. Joe Biden.

Von der Müdigkeit, die ihm in den vergangene­n Monaten oft anzusehen war, keine Spur. Die Nachrichte­n aus Pennsylvan­ia, die Tatsache, dass ihn alle relevanten Tv-sender zum Sieger ausgerufen hatten, müssen auf den bald 78-Jährigen wie ein Jungbrunne­n gewirkt haben. „Leute!“, fängt Biden an, „die Menschen im Land haben gesprochen. Sie haben uns einen klaren, einen überzeugen­den Sieg geliefert. Wir haben mit den meisten Stimmen gewonnen, die je für einen Präsidente­n abgegeben wurden.“

Biden spricht die Gegenseite sofort direkt an. „Ich verstehe die Enttäuschu­ng, ich habe selbst einige Male verloren.“Aber: „Lasst uns einander eine Chance geben.“Biden will Aufbruchst­immung verbreiten.

Der gläubige Katholik zitiert aus der Bibel

In seiner knapp 15-minütigen Rede nimmt er bewusst Anleihen bei dem Mann, dem er acht Jahre lang als Vizepräsid­ent treu zur Seite stand. Damals wie heute geht der rote Faden der Erzählung so: Obwohl politisch tief gespalten, ist Amerika (hoffentlic­h) immer noch das Land, in dem „Rot“und „Blau“, in dem Republikan­er und Demokraten mit gutem Willen zur Kooperatio­n in der Lage sein müssten. Biden will an der Spitze der Bewegung stehen. „Ich verspreche, ein Präsident zu sein, der danach strebt, nicht zu spalten, sondern zu einen“, ruft er und fordert: „Es ist Zeit, die harsche Rhetorik zu den Akten zu legen.“

Scheinbar beiläufig zitiert der gläubige Katholik aus der Bibel. Danach gebe es für alles eine Zeit. Fürs Bauen, fürs Ernten, fürs Säen, für das Heilen von Wunden. „Jetzt ist die Zeit fürs Heilen in Amerika.“

Ob das gelingen kann? Fay, die 64-jährige ehemalige Regierungs­beamtin aus der Bush-ära, die mit ihren Freundinne­n so ausgelasse­n am Samstag feierte, ist vorsichtig optimistis­ch. „Es gibt doch nichts Besseres als gute Hoffnung.“

„Lasst uns einander eine Chance geben.“Joe Biden, designiert­er Us-präsident

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FOTO: JIM WATSON / AFP Der Demokrat Joe Biden (2. v. l.) mit Tochter Ashley (l.), Ehefrau Jill und Sohn Hunter bei der President-elect-party in Delaware.
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FOTO: S. KEITH / AFP Wie hier in New York gingen die Menschen auch in vielen anderen Städten auf die Straße, um das Ende der Trump-jahre zu feiern.
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FOTO:TWITTER/NAOMIBIDEN Enkelin Naomi twittert den Moment des Wahlsiegs.

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