Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Vergossene Milch
Nach dem Reinfall bei den Domstufenfestspielen 2023 soll es mit „Anatevka“aufwärts gehen
Michael Helbing
Erfurt. Möglicherweise provoziere dieses Symbol auch andere Bilder, sagt Bühnenbildner Leif Erik Heine über die riesige umgekippte Milchkanne, die er am oberen Ende der 70 Erfurter Domstufen platzieren will, über welche sich dann breitflächig stilisierte Milch ergießt. Das verweist natürlich auf Tewje, den Milchmann aus dem gleichnamigen Roman Scholem Alejchems, der Jerry Bock als Vorlage seines inzwischen 60 Jahre alten Musicals „Anatevka“diente. Mit der Milch bestreitet Tewje den kärglichen Lebensunterhalt seiner Familie, am Ende werden nicht nur ihm, sondern allen polnischen Juden im Schtetl, auf ukrainischem Boden sowie im russischen Zarenreich gelegen, die Lebensgrundlagen entzogen. Also Exodus, mal wieder.
Uns ist bewusst, dass das Theater Erfurt in der letzten Zeit nicht immer nur positiv in der Presse aufgetaucht ist.“Malte Wasem, kommissarischer Chef des Theaters Erfurt
Deshalb stehe sein Bühnenbild, so Heine, symbolisch auch dafür, „was den Juden in der Geschichte immer wieder passiert ist.“Und er zitiert den antiken Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der über die Eroberung Jerusalems durch Rom 70 vor Christus festhielt: „Blut floss in Strömen die Stufen des Tempels herab.“Es drängt sich auch die (schwarze) Milch der Frühe auf, von der Paul Celan 1944/45 in seiner „Todesfuge“dichtete.
Zur Stunde ist die Hälfte aller Karten bereits verkauft
Aber zwangsläufig provoziert das alles noch ein anderes Bild: die vergossene Milch der so unrühmlich ge- und zerbrochenen Ära des Intendanten Guy Montavon, der aus sattsam bekannten Gründen am Dienstag erstmals seit über 20 Jahren nicht auf einer Pressekonferenz der Domstufenfestspiele zugegen war. Seine letzten Festspiele im Amt waren 2023 ein Flop. Die eine Million Euro Verlust, die aus „Fausts Verdammnis“von Berlioz resultierten, sind das noch am leichtesten erklärbare Drittel eines Drei-Millionen-Lochs im Theateretat.
„Uns ist bewusst, dass das Theater Erfurt in der letzten Zeit nicht immer nur positiv in der Presse aufgetaucht ist“, erklärte Malte Wasem als kommissarischer Chef des Hauses. „Anatevka“soll in den 20 Aufführungen ab 2. August die Festspiele wieder zum Erfolg führen und eine generelle Kehrtwende einleiten. Die Hälfte aller Karten ist zur Stunde bereits verkauft, inklusive derer für die zehn Aufführungen der Kinderoper „Hans im Glück“von David Robert Coleman, vor zehn Jahren in Berlin uraufgeführt. Alle Kartenpreise sind um fünf Euro gestiegen, dafür bekomme man aber auch eine halbe Stunde mehr geboten, so Marketingchefin Marlies Reich. Um das Musical nicht unzulässig kürzen zu müssen, beginnen die Aufführungen bereits 20 Uhr.
Mit „Anatevka“wurde, nach „Der Name der Rose“2019, erstmals wieder ein Musical für die Domstufen programmiert: und zwar zu einer Zeit, Anfang 2022, als längst nicht absehbar war, dass das Jüdische-Mittelalterliche Erbe in Erfurt dem Unesco-Weltkulturerbe zugeschlagen werden würde. Diese Koinzidenz könnte jetzt zusätzlich förderlich sein.
Puccinis Oper
„La Bohème“folgt 2025 Inszenieren wird Ulrich Wiggers, der schon als Schauspieler auch im Musical heimisch wurde, später als Regisseur erst recht. Zudem kennt sich der 68-Jährige mit Theater unter freiem Himmel bestens aus. Seine Arbeiten für die Freilichtspiele Tecklenburg, das Magdeburger
Domplatz-Open-Air, am Roten Tor in Augsburg oder die Karl-MaySpiele in Bad Segeberg stehen dafür. „Anatevka“sei für ihn „eines der schönsten und menschlich bewegendsten Stücke, die es im Theater gibt.“Gebrochene Traditionen und Generationenkonflikte seien das Hauptthema. Es müsse ihm und dem Team aber auch gelingen zu zeigen, dass sich von Vorherrschaft der Zaren bis zum heutigen russischen Tyrannen im Grunde nichts verändert habe. Wiggers spricht von einer absolut zeitlosen Geschichte über die Schwierigkeiten mit Toleranz, Empathie und Solidarität.
Als Milchmann Tewje treten alternierend Máté Sólyom-Nagy, der „Wenn ich einmal reich wär“schon auf der Pressekonferenz kräftig gestaltete, sowie Rainer Zaun als frischer Neuzugang des Theaters Erfurt auf. Für 2025 kündigte man derweil Puccinis „La Bohème“an, was ursprünglich Montavon hätte inszenieren sollen, sowie die Uraufführung der Kinderoper „Das kleine Gespenst“zur Musik von Peter Leipold.
Mehr im Internet unter: www.domstufen-festspiele.de.