Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Schmerzhafter Schulterschluss
Die Schlagzeile klingt unspektakulär, doch der Inhalt birgt politischen Sprengstoff. „Erklärung des Nationalen Olympischen Komitees der UdSSR“heißt es auf Seite 7 des „Neuen Deutschland“vom 9. Mai 1984. Darunter ein spröder Text, der im drittletzten Absatz den Verzicht der Sowjetunion auf die Sommerspiele in Los Angeles verkündet und damit vorwegnimmt, was zwei Tage später zur Gewissheit wird: auch die DDR sagt ab.
Juan Antonio Samaranch erhält die Depesche aus Moskau im Flugzeug. Der IOC-Boss ist auf dem Weg zu US-Präsident Ronald Reagan, um auszuloten, wie ein Boykott des Ostblocks noch verhindert werden kann. Derweil wird eilig ein Großteil der DDR-Athleten in der Sportschule Kienbaum zusammengerufen. Gelten offiziell Sicherheitsbedenken als Grund für die Absage, meint Sportchef Manfred Ewald gegenüber den Olympia-Kandidaten mit dem deutsch-sowjetischen Schulterschluss. „Die UdSSR fährt nicht zu den Sommerspielen, und wir als sozialistisches Land solidarisieren uns mit ihr“, zitiert Marathon-Doppel-Olympiasieger Waldemar Cierpinski den DTSB-Chef.
Den Hallenser trifft der Boykott nach 40.000 Trainingskilometern hart. Zu den angekündigten Ersatzrennen könne er sich keinesfalls motivieren, erklärt Cierpinski vor versammelter Mannschaft – sehr zum Missfallen Ewalds.
Dabei fühlt Ewald sich ebenso um seine Krönung gebracht. Bei den Winterspielen in Sarajevo triumphiert die DDR erstmals als Sieger der Länderwertung. Nun soll auch im Sommer Platz eins her, die USA im eigenen Land geschlagen werden. Der 17-Millionen-Einwohner-Staat auf Augenhöhe mit den Weltmächten, das ist die – keinesfalls vermessene – Sichtachse, zumindest auf dem Felde des Sports.
Um zu retten, was nicht zu retten ist, plant Ewald kurzzeitig einen irren Coup. Eine DDR-Equipe der Elite, die Besten der Besten. 40 Sportler, die 40 mal Gold holen sollen. Doch an jenem 8. Mai ist alles Makulatur. Jeder weiß, dass es die Quittung des Ostens für 1980 ist, den Boykott des Westens in Moskau. Ein olympisches Auge um Auge, das selbst Linientreue schmerzt. Schließlich gelten Medaillen der DDR noch immer als härteste Währung. Sie sind die Münze, mit der das Land auf dem Weltmarkt der Eitelkeiten solvent bleibt.
Und so dauert es nur ein halbes Jahr, bis erneut ein Text im ND steht: „Bereiten wir uns mit ganzem Einsatz auf die Olympischen Spiele 1988 vor“. In seiner Rede vor dem
Nationalen Olympischen Komitee lässt Ewald durchscheinen, was heute Staatsräson genannt werden würde: noch einen Boykott mit der DDR wird es nicht geben.
Es ist vieles besprochen worden in jenem Sommer 84, vor allem zwischen Ewald und Willi Daume, dem westdeutschen NOK-Präsidenten, der sich 1980 mit dem Olympia-Verzicht des Westens um seine Chance auf die IOC-Präsidentschaft gebracht sieht. Zwei Boykotteure wider Willen, zwischen denen, wie die FAZ schreibt, das „Gefühl einer speziellen deutsch-deutschen Einigkeit“entstanden ist.
Im Jahr darauf rollt Ost-Berlin den Olympiern den roten Teppich aus. Als Gastgeber der 90. IOC-Session bekommt Honecker von Samaranch
den Olympischen Orden verliehen und verspricht ihm dafür den Start der DDR in Seoul. Die Zukunft der Spiele ist gerettet.
Öffentlich verhandelt wird der 84er-Boykott nie. Die DDR-Sportler erhalten ihre Olympiakleidung und bei den Ersatz-Wettkämpfen der Freundschaft ihre Prämien. Trost ist das nicht. Für Cierpinski kommt Seoul zu spät. Anderen, wie der jungen Heike Daute, bleibt die Zukunft. Als Heike Drechsler holt sie später zweimal Gold für Deutschland. Nur einer zieht eine Konsequenz: Der Erfurter Schwimmer Frank Hoffmeister setzt sich beim Sieben-Hügel-Meeting in Rom ab und flieht in den Westen – fünf Tage nach jenem schicksalhaften 8. Mai heute vor 40 Jahren.