Thüringer Allgemeine (Sondershausen)
In den Mühlen des Militarismus
In Gera gerät Tschaikowskys Oper „Masepa“zu einer atemberaubenden emotionalen Tour de Force
Gera. Wer wähnte, „Masepa“sei bloß ein entlegener Stoff aus der Zeit Zar Peters I., irrt. Denn am Geraer Theater führt Kay Kuntzes atemberaubende Inszenierung dieser Tschaikowsky„ausgrabung“mitten hinein in eine militarisierte, von machtgierigen Männern dominierte Gesellschaft, an der die romantische Liebe, ja die friedlichfamiliäre Vision eines Schaukelpferdidylls tragisch zerschellt. Nordkorea? Putins Russland? Der Krieg in der Ostukraine? All diese Schauplätze sind unausgesprochen gemeint.
Kuntze verdichtet das weiträumige Zeitpanorama mit ungeheuerlicher Stringenz, und GMD Laurent Wagner dirigiert die vorzüglich einstudierte Musik mit der idealen Balance aus kalkuliertem Effekt und glutheißer Leidenschaft. Da bleibt kein Auge trocken, und es dauert eine Weile, bis nach Marias anrührendem Schlussgesang sich die Schockstarre im Saal löst und in tosendem Beifall entlädt.
Schon zur Ouvertüre, die patriotische Schwerstarbeit für Schlagwerk und Blech vorausahnen lässt, setzen die Mädchen aus Kotschubejs Dorf sich an den Rand des (Orchester-)grabens, um ihre Liebesbrief-schifflein zu wässern. Das Regieteam deutet erdenkliches Folklore-gepränge nur an und integriert Chor- und Balletteinlagen in den rasanten Lauf der Erzählung. Der junge Andrej (Hans-georg Priese) rückt mit einem Schaukelpferd an, hat aber bei der keuschen Tochter des Hauses, Maria, gar keine Chance.
Sie ist aufrichtig wie ein Backfisch verliebt in Masepa, ausgerechnet, ihren Taufpaten, den besten Freund ihres Vaters. Als der beim Bankett von der unseligen Mesalliance erfährt, ist er entsetzt und versucht, die Verbindung zu hintertreiben, indem er den Kosaken-hetman Masepa beim Zaren denunziert. Marias Liebe gerät in die Mühlen eines mitleidlosen Militarismus. Die Macht-architektur Palasts und ein wehrsportliches Knaben-ballett mit Kalaschnikow-atrappen kennzeichnen den heillosen Zeitgeist. Voller Pathos wird die Flagge des zaristischen Russlands geschwenkt, die der Ukraine geht in Flammen auf.
Doch alles kommt anders. Kotschubej gerät in Masepas Hände und wird grausam gefoltert. Seine Ehefrau Ljubow (Anne Schuldt) und Maria kommen zu spät, um die Exekution zu verhindern. All das zeigt Kuntze mit hochdramatischem Furor und steigert die Spannung zum hollywoodreifen Häuserkampf, als er die Schlacht in Masepas Machtzentrale verlegt. Die Freischärler unterliegen, doch auf der Flucht tötet der monströse Hetman, der Maria kühl im Stich lässt, noch den treuen Andrej. So bleibt der Jungfer nichts als Trauer und Wahn. Im Schlussbild sitzt sie wieder am Graben – ein Tropf, wer nicht mit ihr weint.
Nein, gratulieren muss man Anne Preuß, zu welch einer famosen Sängerdarstellerin sie sich entwickelt hat. Johannes Becks Masepa ist dagegen ein finster ambivalenter Bariton, der langsam ins Spiel kommt, stimmlich geschmeidig, doch als Charakter steif, kalt und unnahbar erscheint. Eine Liebesszene mit Maria entlarvt, wie hilflos die zwei miteinander sind. Als Kotschubej nimmt Ulrich Burdacks gelenkiger Bass eine Mittlerposition ein.
Kuntze und Martin Fischer, sein kongenialer Ausstatter, subsumieren in dieser Inszenierung 300 Jahre martialischen Menschengeschicks zur zeitlosen Warnung: vom Großen Nordischen Krieg über den Großen Vaterländischen, die Stalin-zeit und den Kalten Krieg bis hin zu all dem, was uns noch blühen mag. Und sie demaskieren einen gesellschaftlich inhärenten Militarismus als Keim allen Übels. Es ist ein Fanal – und ein überwältigend starkes Theatererlebnis!
▶
Weitere Vorstellungen: .., ..