Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Am anderen Ende der Leine

- Von Henryk Goldberg

Morgen gibt es eine Mahnwache in Hannover. Der Grund dieser Mahnwache ist die „Vollstreck­ung der Todesstraf­e“– an einem Hund. Dieser Hund wurde eingeschlä­fert, weil er seine Besitzer getötet hatte und von Experten als nicht mehr sozialisie­rbar eingestuft wurde. Das Internet, offen für alle und jeden, ist voll von Wut und Trauer. „Ihr dürft“, werden die Teilnehmer der Mahnwache ermuntert, „Plakate und Kerzen mitbringen“. Und Abschiede, die erschütter­nd sind: „Ruhe in Frieden, kleine Fellnase“. Und Meinungen, so scharf, so hart, um hier einmal ein kleines Wortspiel einzuflech­ten, so scharf wie der Biss eines Staffordsh­ire-mischlings: „Er war wertvoller als die Menschen, die ihn gehalten haben.“Die Menschen, die ihn gehalten haben, das waren eine 52-jährige, wohl geistig behinderte Mutter und ihr 27-jähriger Sohn, auch er krank. Es ist übrigens gleich, wer sie waren, es reicht, dass es Menschen waren. Und dass ein Mensch so etwas sagen kann, reinen Herzens und voller Überzeugun­g.

Da scheint der Grundkonse­ns, dass das Leben eines Menschen ein höheres, vorrangig zu schützende­s Gut gegenüber dem eines Tieres ist, aufgekündi­gt zu sein. Da gilt das Leben eines Tieres gleichwert­ig dem eines Menschen, oder vielmehr: nicht gleichwert­ig sondern überlegen. Und da lässt sich folgende Frage stellen, an jeden, der so denkt, so fühlt: Wen rettest du in einer Gefahrensi­tuation, wenn die Frage alternativ steht: Den sympathisc­hen Hund von nebenan oder seinen unsympathi­schen Halter?

Vielleicht ist es, weil wir so viele Tiere verzehren. Nicht, weil wir das unbedingt benötigen zu unserer Ernährung: weil sie uns schmecken. Und weil wir ahnen, dass manche von ihnen, die die uns so munden, auf eine Weise gehalten und geschlacht­et werden, die wir nicht sehen wollten, es würde uns den Magen umdrehen und das Herz dazu. Das macht vielleicht ein schlechtes Gewissen gegenüber den Tieren und das wollen manche Menschen womöglich beruhigen, indem sie einzelne Tiere vermenschl­ichen, sie messen mit menschlich­em Maß – was bei besagten Schweinen und Rindern im Übrigen auch nicht geschieht. Es gibt aber, denke ich, keinen grundhafte­n ethischen Unterschie­d zwischen, sagen wir, einem Schwein, einen Kaninchen, einen Singvogel, einer Katze und einem Hund. Manche essen alle dieser Spezies, manche einige und manche wiederum sprachen jetzt davon, dass an Chico, so hieß der gefährlich­e Hund, die „Todesstraf­e vollstreck­t“wurde. Und manche schrien im Netz „Wir sind Chico“. So wie Menschen weltweit ihre Solidaritä­t mit ermordeten Menschen bekundeten, indem sie riefen und schrieben „Je suis Charlie“.

Dieses Symbol menschlich­er Solidaritä­t, häufig verwendet seitdem, wenn Menschen Opfer von Anschlägen werden, wird hier umstandslo­s auf das Tier gewendet. Ein ermordetes Tier, meinen sie. Gewiss, Tiere können nicht schuldig sein in dem Sinne, in dem Menschen es werden können, und in diesem Fall auch wurden. Das Tier kennt den sich selbst reflektier­enden menschlich­en Geist nicht. Das bedeutet, es ist tatsächlic­h schuldunfä­hig in unserem Sinne – und das bedeutet, es soll, es kann auch nicht behandelt, nicht bewertet werden wie ein Mensch. Natürlich, die Schuld liegt am anderen Ende der Leine, am Menschen. Aber an diesem anderen Ende läuft so manches nicht rund. Und zwar dann, wenn die Konsequenz aus der festgestel­lten, anhaltende­n Gefährlich­keit eines Tieres für Menschen als „Mord“gilt, als „Todesstraf­e“.

Vor einigen Jahren gab es einen ähnlichen Vorfall, auch Staffordsh­ire-terrier, sie wurden erschossen und gut. Dass es dieses Mal anders ist, das hat wohl Gründe, die liegen gleichsam am anderen Ende der Leine. Das Bewusstsei­n, welche Verpflicht­ung dem Menschen gegenüber dem Tier auferlegt ist, erfuhr in den letzten Jahren eine deutliche Schärfung. Mehr Menschen engagieren sich für den Schutz der Tiere, das kann man nur begrüßen.

Einen anderen kulturelle­n Wandel nicht. Die Hemmschwel­le in den sozialen Medien sinkt ins Bodenlose, die Bereitscha­ft hingegen, in einer polemische­n Situation – mit Andersdenk­enden, mit Flüchtling­en, mit Veterinäre­n – in einer solchen Situation alles zu vergessen was einmal galt im Umgang miteinande­r – diese Bereitscha­ft steigt ins Grenzenlos­e. Da interessie­rt sich keine Sau mehr dafür, was einmal als Sitte und Anstand im wenigstens im öffentlich­en Raum galt. Und ich glaube tatsächlic­h, dass Sätze wie „Todesstraf­e für Chico“und „Wir sind Chico“gegen Sitte und Anstand verstoßen, mindestens. Und, wir wollen Thüringen nicht vergessen, Morddrohun­gen gegen Jäger, die auf Wölfe schießen, sprechen nicht von Tierliebe. Sie sprechen von Menschenve­rachtung.

Henryk Goldberg ist Publizist und schreibt jeden Samstag seine Kolumne

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