Thüringer Allgemeine (Sondershausen)
Am anderen Ende der Leine
Morgen gibt es eine Mahnwache in Hannover. Der Grund dieser Mahnwache ist die „Vollstreckung der Todesstrafe“– an einem Hund. Dieser Hund wurde eingeschläfert, weil er seine Besitzer getötet hatte und von Experten als nicht mehr sozialisierbar eingestuft wurde. Das Internet, offen für alle und jeden, ist voll von Wut und Trauer. „Ihr dürft“, werden die Teilnehmer der Mahnwache ermuntert, „Plakate und Kerzen mitbringen“. Und Abschiede, die erschütternd sind: „Ruhe in Frieden, kleine Fellnase“. Und Meinungen, so scharf, so hart, um hier einmal ein kleines Wortspiel einzuflechten, so scharf wie der Biss eines Staffordshire-mischlings: „Er war wertvoller als die Menschen, die ihn gehalten haben.“Die Menschen, die ihn gehalten haben, das waren eine 52-jährige, wohl geistig behinderte Mutter und ihr 27-jähriger Sohn, auch er krank. Es ist übrigens gleich, wer sie waren, es reicht, dass es Menschen waren. Und dass ein Mensch so etwas sagen kann, reinen Herzens und voller Überzeugung.
Da scheint der Grundkonsens, dass das Leben eines Menschen ein höheres, vorrangig zu schützendes Gut gegenüber dem eines Tieres ist, aufgekündigt zu sein. Da gilt das Leben eines Tieres gleichwertig dem eines Menschen, oder vielmehr: nicht gleichwertig sondern überlegen. Und da lässt sich folgende Frage stellen, an jeden, der so denkt, so fühlt: Wen rettest du in einer Gefahrensituation, wenn die Frage alternativ steht: Den sympathischen Hund von nebenan oder seinen unsympathischen Halter?
Vielleicht ist es, weil wir so viele Tiere verzehren. Nicht, weil wir das unbedingt benötigen zu unserer Ernährung: weil sie uns schmecken. Und weil wir ahnen, dass manche von ihnen, die die uns so munden, auf eine Weise gehalten und geschlachtet werden, die wir nicht sehen wollten, es würde uns den Magen umdrehen und das Herz dazu. Das macht vielleicht ein schlechtes Gewissen gegenüber den Tieren und das wollen manche Menschen womöglich beruhigen, indem sie einzelne Tiere vermenschlichen, sie messen mit menschlichem Maß – was bei besagten Schweinen und Rindern im Übrigen auch nicht geschieht. Es gibt aber, denke ich, keinen grundhaften ethischen Unterschied zwischen, sagen wir, einem Schwein, einen Kaninchen, einen Singvogel, einer Katze und einem Hund. Manche essen alle dieser Spezies, manche einige und manche wiederum sprachen jetzt davon, dass an Chico, so hieß der gefährliche Hund, die „Todesstrafe vollstreckt“wurde. Und manche schrien im Netz „Wir sind Chico“. So wie Menschen weltweit ihre Solidarität mit ermordeten Menschen bekundeten, indem sie riefen und schrieben „Je suis Charlie“.
Dieses Symbol menschlicher Solidarität, häufig verwendet seitdem, wenn Menschen Opfer von Anschlägen werden, wird hier umstandslos auf das Tier gewendet. Ein ermordetes Tier, meinen sie. Gewiss, Tiere können nicht schuldig sein in dem Sinne, in dem Menschen es werden können, und in diesem Fall auch wurden. Das Tier kennt den sich selbst reflektierenden menschlichen Geist nicht. Das bedeutet, es ist tatsächlich schuldunfähig in unserem Sinne – und das bedeutet, es soll, es kann auch nicht behandelt, nicht bewertet werden wie ein Mensch. Natürlich, die Schuld liegt am anderen Ende der Leine, am Menschen. Aber an diesem anderen Ende läuft so manches nicht rund. Und zwar dann, wenn die Konsequenz aus der festgestellten, anhaltenden Gefährlichkeit eines Tieres für Menschen als „Mord“gilt, als „Todesstrafe“.
Vor einigen Jahren gab es einen ähnlichen Vorfall, auch Staffordshire-terrier, sie wurden erschossen und gut. Dass es dieses Mal anders ist, das hat wohl Gründe, die liegen gleichsam am anderen Ende der Leine. Das Bewusstsein, welche Verpflichtung dem Menschen gegenüber dem Tier auferlegt ist, erfuhr in den letzten Jahren eine deutliche Schärfung. Mehr Menschen engagieren sich für den Schutz der Tiere, das kann man nur begrüßen.
Einen anderen kulturellen Wandel nicht. Die Hemmschwelle in den sozialen Medien sinkt ins Bodenlose, die Bereitschaft hingegen, in einer polemischen Situation – mit Andersdenkenden, mit Flüchtlingen, mit Veterinären – in einer solchen Situation alles zu vergessen was einmal galt im Umgang miteinander – diese Bereitschaft steigt ins Grenzenlose. Da interessiert sich keine Sau mehr dafür, was einmal als Sitte und Anstand im wenigstens im öffentlichen Raum galt. Und ich glaube tatsächlich, dass Sätze wie „Todesstrafe für Chico“und „Wir sind Chico“gegen Sitte und Anstand verstoßen, mindestens. Und, wir wollen Thüringen nicht vergessen, Morddrohungen gegen Jäger, die auf Wölfe schießen, sprechen nicht von Tierliebe. Sie sprechen von Menschenverachtung.
Henryk Goldberg ist Publizist und schreibt jeden Samstag seine Kolumne