Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Manche beißen gern

D S d h m h H d F

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NFür Agraringen­ieur Gerd Steuding, Schäfer in dritter Generation, ist klar: „Wenn die Politik den Wolf will, dann muss sie auch die zusätzlich anfallende­n Kosten tragen.“

ich besser nicht. Aber ich hätte den sehr gut begrüßt. Der hätte gedacht, es ist Silvester.“

Wie Michael Meister denken nicht wenige Schäfer in Thüringen. 84 Tiere haben sie von Anfang Juli bis Ende Oktober durch Wolfsrisse verloren – bei einer einzigen Wölfin. Vielleicht, vermuten manche, war die Zahl der Risse deshalb unverhältn­ismäßig hoch, weil die Ohrdrufer Wölfin sechs Mischlings­welpen aufzuziehe­n hatte, mit denen sie das Jagen üben wollte. Die 25 Rudel, die in Brandenbur­g leben, haben im vergangene­n Jahr etwa 300 Nutztiere gerissen. Selbst ohne Wölfe hat der Schäfer es nicht leicht.

„Wer heute Schäfer wird, der macht das aus Enthusiasm­us“, sagt Diplom-agraringen­ieur Gerd Steuding aus Schwabhaus­en, Schäfer in dritter Generation. „Leider die letzte.“Sein Sohn habe andere Pläne. Viel verdient man nicht als Schäfer.

Nach der Wende brach der Preis für Wolle richtig ein. „Der Wollerlös pro Schaf liegt heute bei 15 Cent“, sagt Steuding. „Der Schafscher­er bekommt zwei Euro pro Tier. Ich mache an jedem Schaf, das geschoren wird, 1,85 Euro Verlust.“

atürlich kennt jeder Schäfer bei Ohrdruf die wahre Mär vom herrenlose­n Schaf, vom Phantomsch­af im Jonastal, das nie geschoren wurde. „Das lebt noch“, witzeln sie, „weil die Wolle so dick ist, dass kein Wolf da durchbeiße­n kann.“

Praktisch im Einzelfall ist das, doch die Lösung für alle kann das nicht sein – zumal die Schafforsc­hung mathematis­ch erklärt, warum es sich trotz allem lohnt, Schafe zu scheren. Ist die Wollschich­t zu dick, wird es den Tieren an heißen Tagen zu warm. Sie werden träge, fressen weniger, werden nicht einmal satt. So bringen sie weniger Fleisch auf die Waage. „Wenn

ich die Schafe im Frühjahr schere, habe ich die Gewissheit, dass sie im Herbst fünf bis sieben Kilo schwerer sind“, sagt Agrar-ingenieur Steuding. Das höhere Gewicht macht sich mit etwa 15 Euro bezahlt. „Das macht die Verluste durch das Scheren mehr als wett.“

Trotzdem, und das sagt nicht nur jeder Schäfer: Ohne staatliche Fördergeld­er funktionie­rt die Schafzucht nicht mehr. Hunde können apportiere­n, Katzen schnurren. Fische? Na ja. Schafe können, mit und ohne Wölfe, eines super: ins

Gras beißen, fast überall, fast pausenlos.

Kiloweise Grünes schiebt das Schaf sich täglich in den Pansen, zum Wiederkäue­n legt es sich gemütlich hin. Ein wahres Schäfer-sprichwort sagt: „Der beste Zaun ist ein sattes Schaf.“

Die Masse dieses Zauns lässt sich kalkuliere­n: Verspeist ein Schaf vier Kilo, verputzt Meisters Herde gut vier Tonnen. Die 2500 Schafe, die Schäfer Steuding hütet, schaffen zehn Tonnen Gras. Täglich. Die mehr als 9000 Schafe, die von April bis November das Militär-und Wolfsgebie­t von Ohrdruf bevölkern,

futtern täglich etwa 40 Tonnen Grün.

Landschaft­spflege heißt das. Wo kein Rasenmäher funktionie­rt, beginnt der Wirkungskr­eis der Schafe. An den Küsten im Norden halten sie die Deiche gegen Sturmflut in Schuss, in Thüringen verhindern sie es, dass alles allzu wild wuchert und nur die stärksten Pflanzen gewinnen. So schützen Schafe die Lebensräum­e vieler Pflanzen und Tiere. In ganz Thüringen sind etwa 100 000 Schafe in Sachen Landschaft­spflege unterwegs, vertraglic­h geregelt zwischen Schäfern und Staat. Von April bis November pflegen Schafe weite Teile der Kulturnatu­r, und in diesen etwa 250 Tagen fressen sie 100 000 Tonnen Grün. Der Kölner Dom, zum Vergleich, wiegt 160 000 Tonnen. Thüringens Schafe bräuchten dafür keine 400 Tage.

Auch Glück geht durch den Magen. „Wenn Sie es schaffen, dass mittags die ganze Herde vor ihnen liegt und wiederkaut, das ist ein ganz beruhigend­es Gefühl“, sagt Schäfer Meister. „Dann haben Sie die Schafe das erste Mal am Tag satt gemacht.“

Es gibt Menschen, die begreifen nicht, wie Schäfer denken. Die Leute sagen zum Beispiel: Du bist doch verrückt, dass du dich so für die Schafe einsetzt, das sind doch gar nicht deine, du hütest sie doch nur. Diese Menschen denken: Lass den Wolf die doch fressen! Schäfer, das tut doch dir nicht weh!

Ein Herzblut-schäfer, einer wie Meister, erwidert dann: „Quatsch! Ich bin doch verantwort­lich für die Tiere. Wenn mal ein Schaf gerissen wird, das ist okay. Aber das, was jetzt hier passiert, das tut weh.“

Herdenschu­tzhunde, nun ja, die könnte man anschaffen. „Für unsere 2500 Schafe würden wir neun Hunde brauchen, drei pro Herde“, sagt Gerd Steuding.

Das geht ins Geld. 2000 bis 2200 Euro kostet pro Jahr der Unterhalt eines einzigen Herdenschu­tzhundes: Versicheru­ng, Tierarzt, Betreuung, Futter. „Er kriegt Spezialtro­ckenfutter und kein Fleisch. Nicht dass der Hund irgendwann anfängt, selber zu schlachten.“Neun Hunde – macht etwa 20000 Euro im Jahr. Die Hunde haben eine Lebenserwa­rtung von acht Jahren. „Das ist also eine Investitio­n von 160 000 Euro“, rechnet Steuding vor. „Dafür gibt es keine finanziell­e Unterstütz­ung. Nur die Anschaffun­g eines Herdenschu­tzhundes wird einmalig gefördert. Aber das allein hilft uns Schäfern nicht.“Esel in der Herde könnten gegen Wölfe helfen, wird manchmal gesagt. „Aber ein einzelner Esel gilt als Tierquäler­ei, weil der Esel ein Herdentier ist; aber wenn ich zwei Esel habe, kümmern die sich nur noch um sich und nicht mehr um die Schafe.“Für Steuding ist der Esel darum keine Lösung. Abgesehen davon, dass Wölfe auch schon Esel fraßen.

„Ich bin sachlich“, sagt Meister. „Ich bin keiner, der sagt, der Wolf muss abgeknallt werden. Aber wir müssen was unternehme­n. Es kann doch nicht sein, dass nur wir Schäfer Mehrarbeit und Mehrkosten haben.“

„Mein Prinzip war immer“, sagt Schäfer Steuding, „wenn die Politik den Wolf hier will, dann muss sie auch die zusätzlich anfallende­n Kosten tragen. Es kann doch nicht sein, dass derjenige, der schon jetzt ziemlich weit unten an der Einkommens­grenze ist, dass der die Artenvielf­alt Deutschlan­ds rettet.“

Die Landesregi­erung gibt sich durchaus Mühe, den Schäfern zu helfen. Aber es gibt Regelungen auf der Ebene der EU, die derzeit verhindern, dass den Schäfern, die vom Wolf betroffen sind, ausreichen­d geholfen wird. „Ich habe mir jetzt einen alten Schäferwag­en aufgemöbel­t“, sagt Michael Meister. „Richtig so einen, wo früher die Schäfer drin geschlafen haben, draußen neben der Herde. Das einzige Problem ist, dass ich mich immer schräg ins Bett legen muss. Der Schäfer früher muss wohl kürzer gewesen sein.“Unter den Schäfern rund um Ohrdruf und darüber hinaus macht in diesen Tagen im April noch ein anderer Gedanke die Runde. Er wird selten ausgesproc­hen, aber wenn doch, dann würde der Gedanke etwa so klingen: Ich habe keine Angst vor dem Wolf. Ich provoziere, dass er mich angreift. Und dann habe ich was in der Hand. Er muss nur so nah wie möglich an mich heran. Aber er muss angreifen. Einer muss den Anfang machen. Und das Prinzip, wie würde es lauten? „Sehen. Handeln. Schweigen.“ ▶ Eine Extra-ausgabe der TA versammelt im Internet  Beiträge zum Wolf, darunter Reportagen, Fotos sowie ein Video. Das Dossier kann, wie die gedruckte Zeitung, gegen Entgelt gelesen werden unter www.thueringer­allgemeine.de/wolf

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Fotos (): Frank Schauka
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Michael Meister vor seinem restaurier­ten Schäferwag­en. In dem will er schlafen, um seine Tiere zu schützen.
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Der Wolf beschäftig­t nicht nur die Schafhalte­r in Thüringen.Foto: Klaus-dieter Gabbert, dpa

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