Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Zschäpe schlägt zurück

Im Nsu-prozess greift die Hauptangek­lagte per Verteidige­r die Bundesanwa­ltschaft hart an

- Von Martin Debes

München. Der gelbe Aktenordne­r auf der Anklageban­k liegt bereit, der Pultaufsat­z steht, das zusätzlich­e Mikrofon ist angeschlos­sen. Hermann Borchert schnäuzt noch einmal ausführlic­h in sein Stofftasch­entuch, setzt die Brille auf, räuspert sich und sagt: „Hoher Senat, sehr geehrter Herr Vorsitzend­er Richter...“

Und so beginnen nach monatelang­er Verzögerun­g am 419. Verhandlun­gstag des Nsu-prozesses endlich die Plädoyers der Verteidigu­ng. Als Erstes dürfen die Rechtsanwä­lte der Hauptangek­lagten Beate Zschäpe vor dem Oberlandes­gericht in München reden.

Es ist das vorletzte Kapitel der Hauptverha­ndlung, die seit fast fünf Jahren andauert. Die Bundesanwa­ltschaft hat bereits im vorigen Herbst ihre Plädoyers gehalten. Sie sieht alle Taten, deren sie Zschäpe im Jahr 2012 angeklagt hatte, als bewiesen an: die Mittätersc­haft an den Nsuverbrec­hen, also an den zehn Morden, den zwei Sprengstof­fanschläge­n mit 30-fachem versuchten Mord und an 15 Banküberfä­llen. Hinzu kommt noch besonders schwere Brandstift­ung mit versuchtem Mord, als sie das Haus in Zwickau anzündete, wo sie mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos lebte.

Die geforderte Strafe für Zschäpe: lebenslang­e Haft plus nachträgli­che Sicherungs­verwahrung. Die meisten der etwa 80 Nebenklage­vertreter und ihre rund 60 Rechtsanwä­lte hatten sich in ihren Plädoyers, die bis Februar währten, dieser Forderung angeschlos­sen. Danach stellten verschiede­ne Angeklagte und ihre Verteidige­r immer neue Beweis- und Befangenhe­itsanträge.

Doch am Dienstag ist erst mal damit Schluss. Nachdem das Gericht eine letzten Antrag auf Unterbrech­ung abgelehnt hat, ist endlich Borchert dran. Seite um Seite liest er aus dem gelben Aktenordne­r sein Plädoyer vor, Punkt für Punkt arbeitet er sich an der Anklagesch­rift und den Plädoyers der Bundesanwa­ltschaft ab. Irgendwelc­he Beweise für die angebliche­n Taten seiner Mandantin will er dort nicht gefunden haben, nur Spekulatio­nen, Fehlschlüs­se und Falschbeha­uptungen.

Dahinter, sagt der Anwalt, stecke System. Die Anklage habe Beweismitt­el bewusst einseitig gewürdigt: „Sämtliche Indizien wurden so ausgelegt, dass sie in das in der Anklagesch­rift gezeichnet­e Bild passen.“

Auch die schriftlic­he Aussage von Zschäpe habe die Anklage „selektiv und zielgerich­tet“fehlinterp­retiert. Borchert verteidigt damit nicht nur seine Mandantin Hermann Borchert, Zschäpe-verteidige­r

– er verteidigt auch sich selbst, denn er war es, der im Jahr 2014 Kontakt mit Zschäpe im Gefängnis aufgenomme­n hatte, während der Prozess schon mehr als ein Jahr lief und die Hauptangek­lagte längst von ihren Pflichtver­teidigern Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm vertreten wurde.

Aus den Gesprächen mit dem Münchner Anwalt resultiert­e im Sommer 2015 die Entscheidu­ng Zschäpes, ihre damaligen Rechtsanwä­lte abzulehnen und zusätzlich Borchert und dessen Kollegen Mathias Grasel als Verteidige­r zu nehmen. Damit verbunden war ein abrupter Strategiew­echsel: Nach mehr als zweijährig­em Schweigen zeigte sie sich plötzlich zur Aussage bereit, wenn auch nur schriftlic­h.

Diese Aussage, dass bestätigt Borchert gestern indirekt, sei von ihm geschriebe­n worden. „Ich persönlich habe den Stil der persönlich­en Stellungna­hme geprägt“, sagt er.

Darin, erinnert er, habe seine Mandantin zwar bestritten, an Vorbereitu­ng und Durchführu­ng der Taten beteiligt gewesen zu sein. Gleichzeit­ig sei aber von ihr eingeräumt worden, dass sie die Raubüberfä­lle akzeptiert­e und von der Beute lebte. Zudem habe sie die Brandstift­ung zugegeben, eine moralische Mitschuld eingestand­en – und sich entschuldi­gt.

Wie schon in Zschäpes Aussage vor mehr als zwei Jahren schildert Borchert die Hauptangek­lagte als eine Frau, die im Untergrund in einer „psychische­n Ausnahmesi­tuation“gefangen gewesen sei. Die Taten der beiden Männer hätten sie zwar abgestoßen, gleichzeit­ig habe sie Böhnhardt geliebt und keine Chance für eine Rückkehr in ein bürgerlich­es Leben gesehen. Also habe sie sich in die Situation ergeben.

Kurzum, für die Verteidige­r ist die Hauptangek­lagte zwar nicht unschuldig, schließlic­h hat sie ja die Brandstift­ung eingeräumt. Aber eine Mittäterin ist sie für Borchert auch nicht – eher ein Opfer der Umstände.

Dazu, welches Strafmaß er bei Zschäpe für angemessen hält, sagt der Rechtsanwa­lt gestern noch nichts. Dies wollen er und sein Kollege Grasel erst am Ende des Plädoyers mitteilen. Am heutigen Vormittag soll es in München weitergehe­n.

„Vor allem Nebenklage­vertreter haben den Prozess als willkommen­e Bühne genutzt, um sich darzustell­en und sich zu vermarkten.“

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