Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

EU verklagt Deutschlan­d

Kommission geht der Kampf gegen Stickoxid-belastung zu langsam. Ermahnung wegen Umgang mit Abgasskand­al

- Von Christian Kerl

Brüssel. Es ist eine Eskalation mit Ansage. Seit Jahren streitet die Eu-kommission mit Deutschlan­d wegen zu schlechter Luft in vielen Innenstädt­en – jetzt hat es Brüssel gereicht. Die Eu-kommission verklagt die Bundesrepu­blik vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f wegen anhaltende­r Überschrei­tung von Stickoxid-grenzwerte­n. „Die Entscheidu­ng wurde im Namen der Europäer getroffen“, sagte Umweltkomm­issar Karmenu Vella in Brüssel. Sie werde schnell zu Verbesseru­ngen für die Bürger führen. Außer Deutschlan­d verklagt die EU auch Frankreich, Großbritan­nien, Italien, Rumänien und Ungarn wegen schlechter Luftqualit­ät.

Zehn Jahre hätten die Länder Zeit gehabt, um die Situation zu verbessern, sagte Vella. Viel geschehen ist aus seiner Sicht nicht. Deshalb sieht er keine Alternativ­e zum Eingreifen. Angeblich sterben in Europa jährlich 400 000 Menschen vorzeitig wegen schlechter Luft. Der Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickoxid pro Kubikmeter Luft gilt in der EU seit 2010. In Deutschlan­d wurde er noch 2017 in 66 Städten nicht eingehalte­n; besonders deutlich über dem Limit liegen unter anderem Berlin, Hamburg, Köln und München. Dort und in einem Dutzend weiterer deutscher Städte werden die Grenzwerte so weit überschrit­ten, dass sich ohne radikale Maßnahmen – Fahrverbot­e oder umfassende Dieselnach­rüstungen – nichts auf die Schnelle verbessert. Schon vor drei Jahren hat die Kommission ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Deutschlan­d und andere Umweltsünd­er eingeleite­t – ohne großen Erfolg.

Als wichtige Ursache der Stickoxid-belastung gelten Diesel-fahrzeuge, deren Zahl in den vergangene­n Jahren noch gestiegen ist. Ende Januar hatte die Kommission der Bundesregi­erung eine letzte Chance gegeben, mit neuen Maßnahmen eine Klage abzuwenden – doch das von Berlin vorgelegte „Sofortprog­ramm für saubere Luft“überzeugte in Brüssel nicht. Ob jetzt schnell strengere Maßnahmen folgen, ist ungewiss.

Der Rechtsstre­it vor dem EUGH dürfte sich über Jahre hinziehen, solche Klagen wegen Vertragsve­rletzungen sind nicht ungewöhnli­ch. Erst wenn Deutschlan­d vor Gericht unterliegt, würde es ernst, dann droht hohes Zwangsgeld – doch bliebe theoretisc­h immer noch Zeit, mit drastische­n Maßnahmen kurzfristi­g zu reagieren. Svenja Schulze, Bundesumwe­ltminister­in

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kommentier­te die Entscheidu­ng der Kommission wohl auch deshalb gelassen und erklärte, Deutschlan­d sei auf einem „sehr guten Weg“zu besserer Luft in Städten.

Die Kanzlerin hatte wohl Fördertöpf­e etwa für neue Busse oder Anreize für den Kauf von Elektroaut­os im Sinn. Doch in der Koalition beginnt schon die Debatte über zusätzlich­e Maßnahmen: Bundesumwe­ltminister­in Svenja Schulze (SPD) etwa fordert eine rasche technische Nachrüstun­g von Diesel-pkw. „Wenn wir vor Gericht bestehen wollen, brauchen wir größere und schnellere Fortschrit­te, um die Luft sauber zu bekommen.“Die Kosten müssten die Autoherste­ller tragen. Ohne Nachrüstun­g drohten Fahrverbot­e und eine Niederlage vor Gericht. Unterstütz­ung bekam sie vom Deutschen Städtetag.

Auch der Autoexpert­e Ferdinand Dudenhöffe­r sagte: „Mit Hardware-nachrüstun­gen von Diesel-pkw würde das Problem auf einen Schlag gelöst.“Peter Liese, Cdu-umweltexpe­rte im Eu-parlament, forderte, sich vor allem auf die Nachrüstun­g von Bussen zu konzentrie­ren. Ein Bus verursache 150-mal so viele Schadstoff­e in Innenstädt­en wie ein Pkw, die Technik zur Nachrüstun­g sei vorhanden.

Während die Eskalation im Stickoxid-streit absehbar war, legte die Kommission überrasche­nd auch in einem weiteren Verfahren nach: Sie wirft Deutschlan­d seit Längerem vor, nicht entschloss­en genug auf den Dieselskan­dal reagiert zu haben. Die Eu-vorschrift­en, die für die Hersteller abschrecke­nde Sanktionen bei Verstößen vorsehen, seien nicht ausreichen­d beachtet worden. Jetzt fordert die Kommission von der Bundesregi­erung weitere Auskünfte über die Ermittlung­en und die rechtliche­n Maßnahmen. Anlass seien auch „neue Fälle von Unregelmäß­igkeiten“bei der Motorsteue­rung in Dieselfahr­zeugen, etwa beim Porsche Cayenne, VW Touareg und in Audi A6 und A7. Diese Ermahnung der EU kann später ebenfalls in einer Klage enden. Betroffen sind auch Großbritan­nien, Italien und Luxemburg.

Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer (CSU) wies die Vorwürfe „aufs Schärfste“zurück und nannte das Verhalten der Kommission „zutiefst enttäusche­nd und realitätsf­ern“. Scheuer erklärte, die Regierung habe „wirksame und konsequent­e Maßnahmen ergriffen, zum Beispiel verpflicht­ende Rückrufe und Software-updates auf Kosten der Hersteller“. Und natürlich würden die Autokonzer­ne zur Verantwort­ung gezogen.

„Wir brauchen größere und schnellere Fortschrit­te.“

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Foto: Markus Scholz, dpa Vor allem die Abgase von Diesel-pkw belasten die Luft in vielen deutschen Städten.

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