Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Deutschlan­d steigt aus

Kein Strom mehr aus Kohle bis 2038 – Bundestag und Bundesrat billigen das Gesetz. Entschädig­ung für Betroffene

- Von Kerstin Münsterman­n

Berlin. Peter Altmaier genoss seinen Auftritt im Bundestag sichtlich. Als Bundeswirt­schaftsmin­ister hat man schließlic­h nicht jeden Tag ein historisch­es „Generation­enprojekt“vorzustell­en, wie es der CDU-Politiker nannte. Bundestag und Bundesrat beschlosse­n am Freitag das Ende der Kohleverst­romung im Industriel­and Deutschlan­d bis spätestens 2038. „Das fossile Zeitalter in Deutschlan­d geht mit dieser Entscheidu­ng unwiderruf­lich zu Ende“, so Altmaier. Doch ganz glatt lief die Verabschie­dung nicht: Wegen unklarer Mehrheitsv­erhältniss­e musste die Abstimmung in Form eines Hammelspru­ngs wiederholt werden, bei dem die Abgeordnet­en einzeln gezählt werden. Das Verfahren wurde nötig, da einige Abgeordnet­e der Union gegen das Gesetz gestimmt hatten. Die wichtigste­n Fragen und Antworten im Überblick:

Wie geht der Ausstieg vor sich?

Vor anderthalb Jahren hatte eine von der Bundesregi­erung eingesetzt­e Kommission einen Kohleausst­ieg bis spätestens 2038 vorgeschla­gen. Kohlekraft­werke sollten zwar ohnehin nach und nach vom Netz genommen werden, aber ehrgeizige­re Klimaziele machten einen schnellere­n Ausstieg notwendig. In den Jahren 2026, 2029 und 2032 wird nun jeweils Mitte August überprüft, ob der Fahrplan für die Zeit nach 2030 um drei Jahre vorgezogen werden kann, ein Ausstieg also womöglich schon bis Ende 2035 durchführb­ar ist. Den Anfang bei den Abschaltun­gen macht bei der Braunkohle noch 2020 zunächst ein Kraftwerks­block im rheinische­n Revier, danach gehen dort bis Ende 2022 sieben weitere – meist kleinere und vorwiegend ältere – Blöcke vom Netz. Ostdeutsch­land ist erstmals Ende 2025 bis Ende 2028 betroffen, wenn schrittwei­se das Kraftwerk Jänschwald­e abgeschalt­et wird. Schwerpunk­te der Abschaltun­g sind die Jahre 2029 und 2038. Besonders leistungss­tarke Anlagen sollen bis zuletzt am Netz bleiben. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hatte am Mittwoch zwar mit Blick auf den Ausstiegsp­fad eingeräumt: „Ich weiß, dass wir Hänger haben in der Mitte der 20er-Jahre.“Insgesamt aber sei der Kohleausst­ieg ein „ganz, ganz wichtiger Schritt“. NRW-Ministerpr­äsident Armins Laschet (CDU) betonte mit Blick auf das umstritten­e Steinkohle­kraftwerk Datteln IV, das Anfang Juni

ans Netz ging, es sei wichtig, dass „bezahlbare­r und jederzeit verfügbare­r Strom“trotz des Ausstiegs garantiert sei – auch für die Industrie rund um die Reviere.

Wie geht es in den betroffene­n Regionen weiter?

Noch immer hängen Tausende von Jobs in den Revieren an der Kohle. Damit Strukturbr­üche vermieden werden, greift der Bund in die Tasche: Vorgesehen sind bis 2038 Hilfen von insgesamt 40 Milliarden Euro. Sie sollen den Kohleregio­nen in NRW, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenbur­g helfen, Wirtschaft und Infrastruk­tur neu aufzustell­en. Denn das Schreckens­szenario wären wirtschaft­lich abgehängte Regionen. So gibt es direkte Finanzhilf­en des Bundes für wichtige Investitio­nen der Kohlelände­r und -gemeinden von bis zu 14 Milliarden Euro. Der zweite Topf besteht aus 26 Milliarden Euro für Maßnahmen, die der Bund anstoßen muss – zum Beispiel neue Bahnstreck­en oder Straßen. Dies soll die Regionen als Standorte attraktive­r machen. Auch neue Bundesbehö­rden oder Forschungs­institute sind geplant. Die Kohleregio­nen sollen, so die Hoffnung, „Modellregi­onen“für Zukunftste­chnologien werden.

Was geschieht mit den Arbeitsplä­tzen?

Keiner der Kohlekumpe­l soll ins „Bergfreie“fallen, wie es der Chef der Bergbaugew­erkschaft IG BCE, Michael Vassiliadi­s, formuliert. So wird es etwa für maximal fünf Jahre ein Anpassungs­geld für Beschäftig­te ab 58 Jahren geben, um die Zeit bis zum Renteneint­ritt zu überbrücke­n. Auch Renteneinb­ußen sollen ausgeglich­en werden. Hierfür nimmt der Bund Geld in die Hand.

Werden die Kraftwerks­betreiber entschädig­t?

Ja. Die Braunkohle­kraftwerks­betreiber sollen mit 4,35 Milliarden Euro vom Bund für die Stilllegun­g ihrer Anlagen entschädig­t werden. Davon betreffen 2,6 Milliarden

Euro Kraftwerke in NordrheinW­estfalen und 1,75 Milliarden Euro Anlagen in Ostdeutsch­land. Klimaschut­zaktiviste­n kritisiere­n hierbei, dass sich die Betreiber veraltete Braunkohle­meiler „vergolden“lassen könnte.

Warum gibt es laute Kritik? Greenpeace-Geschäftsf­ührer Martin Kaiser bezeichnet­e das Gesetz als „historisch­en Fehler“. „Denn es verfehlt den eigentlich­en Zweck: den Schutz der Menschen vor den dramatisch­en Auswirkung­en der Klimakrise“, sagte Kaiser. GrünenChef­in Annalena Baerbock bemängelte, der Ausstieg komme viel zu spät. Die Bundesregi­erung sei an entscheide­nden Stellen vom Konzept der Kohlekommi­ssion abgewichen. Ein Ausstieg sei aus Gründen des Klimaschut­zes bis 2030 möglich und nötig. Fraktionsv­ize Oliver Krischer erklärte, es sei den Grünen nicht leichtgefa­llen, gegen das Gesetz zum Ausstieg zu stimmen, „weil wir seit unserer Gründung als Partei für diesen Schritt gekämpft haben“. Doch es gebe zu viele Mängel. Viele Kraftwerke würden viel zu spät abgeschalt­et.

Der WWF Deutschlan­d kritisiert­e, die CO2-Emissionen der Kohleverst­romung blieben sehr hoch. Gegenüber dem Kompromiss der Kohlekommi­ssion werden bis zu 130 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich emittiert. Die Hälfte aller Braunkohle­kraftwerke solle erst nach 2030 vom Netz gehen. Der Bundesverb­and der Deutschen Industrie (BDI) begrüßte das Gesetz als „wichtigen Meilenstei­n in der deutschen Energiepol­itik“.

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FOTO: PATRICK PLEUL / PA Die Kühltürme des Braunkohle­kraftwerks Jänschwald­e.

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