Thüringer Allgemeine (Sondershausen)
Goethes Handwerk in Kochberg
„Die Mitschuldigen“folgen vorm Liebhabertheater einer historischen Aufführungspraxis
Großkochberg. Als sie dieses kleine Lustspiel zuletzt in unseren Breiten gaben, seit 2006 am Nationaltheater zu Weimar, da flogen Eier und Tomaten: nicht auf die, aber auf der Bühne. Regisseurin Thirza Bruncken machte aus Goethes an Molière, Lessing und Commedia dell’arte geschulter Wirtshausposse radikal zeitgenössisches Bauerntheater.
Diese Art Werktreue sorgte für einen, für Weimars Verhältnisse, veritablen Theaterskandal. Es hagelte heftige „Buhs“auch auf die „Bravo“-Fraktion, und umgekehrt. Das folgte, in der Szene und im Saal, der hysterischen Aufführungspraxis.
Kann sein, die Buhrufer hätten „Bravo“gerufen, und umgekehrt, angesichts einer Vorstellung der „Mitschuldigen“, wie sie sich jetzt erstmals im beziehungsweise vor dem Liebhabertheater auf Schloss Kochberg ereignete. Dort pflegen sie inzwischen auch im Sprechtheater eine historische Aufführungspraxis, geschult unter anderem an Goethes Regeln für Schauspieler.
Die waren noch nicht formuliert, als der blutjunge Dichter aus seiner frühen Farce 1769 ein Lustspiel formte. Und auch nicht, als er selbst acht Jahre später darin den Edelmann Alceste vorstellte, in der Uraufführung seines Liebhabertheaters
am Weimarer Hof. Wohl aber, als er es dann 1805 erstmals am Weimarer Hoftheater spielen ließ.
Die Schaubühne an der KlassikStiftung ist dieser Historie nach ein Zwitter in Kochberg: ein Liebhabertheater noch dem Namen nach, aber kein Ort fröhlicher Dilettanten, wie auch Goethe einer war. Hier spielen Berufsmäßige die klassischen Texte so, „wie ihr Schöpfer es gewollt hätte.“Sagt Silke Gablenz-Kolakovic, die Prinzipalin, über das künstlerische Prinzip.
Das klingt heutzutage gewagt, zumal mit Heiner Müller im Kopf: Der Text ist klüger als der Autor. Aber es beschreibt die Radikalität eines lebendigen Theatermuseums. Die historische kommt der dieser Tage zeitgemäßen Aufführungspraxis aber besonders entgegen. Eine gewisse Corona spielte schon 1777 mit: Sängerin Corona Schröter trat, neben Goethe, Kaufmann Bertuch und Märchensammler Musäus, als Wirtstochter Sophie auf. Nun spielt Corona, das Virus, eine Rolle. Es lässt die Aufführung aus dem Theater vor das selbige verlagern, als Freilichtspiel unter der Säulenhalle.
Und es manifestiert und erweitert den künstlerisch ohnehin gebotenen Abstand derart, dass inniges Küssen oder Am-Schlafittchen-Packen nur noch angedeutet werden.
Am Morgen ist das Geld weg
Der Portikus wird ‘s Wirtshaus, in dem der nicht nur kostümtechnisch gut betuchte Alceste (Gerda Müller) absteigt. Er hatte mal eine Liaison mit Sophie (Lisa Altenpohl), an die beide anknüpfen mögen. Sie ehelichte aber den hoch verschuldeten und tief ins Glas blickenden Söller (Andreas Schmitz): ein Taugenichts, „allein, er ist ein Mann“.
Vom Schwiegersohn, dem Sophie Hörner aufzusetzen scheint, hat der Wirt (Harald Arnold) nichts zu hoffen, vielleicht aber den bleibenden Ruhm durch Alcestes gute Verbindungen. In dessen Zimmer finden sich nächstens alle ein, nach- oder miteinander, ohne voneinander zu wissen. Am nächsten Morgen ist sein Geld weg. Es gibt nur einen Dieb, aber vier Schuldbeladene.
Das geht in Nils Niemanns einschlägig versierter Regie mit sehr viel Akkuratesse und ein klein wenig Extempore über die Bühne: in klassischer Standbein-SpielbeinPose ohne vierte Wand; Dreiviertel des Gesichts sind uns zugewandt.
Vor allem bedeutet die Aufführung großes Hand-Werk, im Wortsinn: Zeigefinger und Daumen, Handflächen und Arme illustrieren den Text deutlich. Dieser, in Alexandrinern gedichtet, ist ihnen alles, seine Zwischenräume so gut wie nichts. Hier lernen wir den Begriff der Vorstellung räumlich zu verstehen: Sie stellen den Text und ihre Körper ausladend in die Szenerie. Für Vorstellung im Sinne von Einbildungskraft bleibt kaum Platz.
Das ist die reine, so kluge wie amüsante theatralische Sendung: gerichtet ans Publikum sowie an Dialogpartner, denen auch was vorzumachen ist. Dieses doppelte Spiel sowie die ihm anvertrauten Mittel beherrscht das Ensemble fast perfekt, zu allgemeinem Wohlgefallen.
Keine Eier, keine Tomaten. Keine Buhs, kein Skandal. Nur Bravos.