Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Durch den wilden Osten

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Neulich fuhr ich nach Birkenwerd­er, einst ein Dörfchen im Brandenbur­gischen, das, nachdem es an das Berliner Bahnnetz angeschlos­sen wurde, zu einer hübschen Villenvors­tadt wuchs. Dort lebt Josef Duchač, 82 Jahre alt, zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter, den Enkeln.

Der alte Mann sieht nichts mehr mit seinen Augen, aber noch alles mit seinem Verstand. Bis ins Detail erinnert er sich daran, wie es damals war, vor 30 Jahren, als er zum Ministerpr­äsidenten des alten neuen Thüringens gewählt wurde, wie ein Land wiederaufe­rstand, mit neuem Geld, neuen Gesetzen, neuen Gewohnheit­en.

Josef Duchač, ein Chemieinge­nieur, der als Abteilungs­leiter in den Waltershäu­ser Gummiwerke­n gearbeitet hatte, und später auch ein paar Jahre im Rat des Kreises Gotha, sollte auf einmal die Regierung führen, die aus lauter politische­n Laien bestand, wie er einer war. Ein Lehrer sollte die alte Volkspoliz­ei demokratis­ieren, eine Pastorin das Gymnasium einführen und ein Ingenieur versuchen, die volkseigen­en Betriebe zu retten. Viele von ihnen waren 1989 keine Helden gewesen, sondern hatten sich in der DDR ihre Nische gesucht, zum Beispiel, so wie Duchač, in der Blockparte­i CDU.

Es war eine historisch­e, ja, eine ungeheuerl­iche Aufgabe. Während das alte ökonomisch­e System implodiert­e, während Hunderttau­sende Menschen arbeitslos wurden oder gleich ganz abwanderte­n, wurde eine neue politische Ordnung errichtet, mit Westgeld, Westhilfe und Westbeamte­n, aber eben auch mit eigener Anstrengun­g und ja, so einigen Opfern.

Denn die Schnelligk­eit der Vereinigun­g, für die internatio­nale wie politische Gründe sprachen, hatte ihren wirtschaft­lichen und sozialen Preis – genauso wie die Solidaritä­t der alten Bundesrepu­blik. Die Ausbeutung als verlängert­e Werkbank, das Stigma des Billiglohn­landes und das ungute Gefühl, Deutsche zweiter Klasse zu sein: Das alles hat sich, wie die Umfragen bis heute zeigen, im kollektive­n Gedächtnis der Menschen dieses Landes festgesetz­t.

Es war eine irre, schicksalh­afte Zeit, gleichzeit­ig befreiend und beklemmend, erfüllend und enttäusche­nd, aufregend und agonisch. Statt der aufgezwung­enen, nie real existieren­den Gleichheit in der

DDR teilte sich die Gesellscha­ft in Gewinner und Verlierer.

Das Klischee vom wilden Osten, es stimmte, alles war roh, neu, ungeordnet. In diesem mehr oder minder organisier­ten Durcheinan­der übten Abertausen­de Menschen die Demokratie, in Kreistagen oder Gemeinderä­ten, in Bürgermeis­terund Landratsäm­tern und in den Verfassung­sorganen. Der Landtag verabschie­dete im Akkord Gesetze, während Josef Duchač und sein Kabinett versuchten, eine echte Regierung zu mimen, ohne Personal, ohne Telefone und, ja, oft auch ohne eine Ahnung davon, was genau sie da eigentlich taten.

Natürlich machten sie dabei Fehler, vermeidbar­e, zuweilen peinliche. Doch sie hatten das Geschäft, das sie verrichtet­en, ja auch nie gelernt, zudem waren die Umstände derart komplizier­t, dass daran selbst angereiste Profis aus dem Westen scheiterte­n.

Wer im Rückblick auf diese Zeit schaut und auf die Menschen, die zu gestalten versuchten, der sollte nicht verklären, wie es zuweilen zu oft getan wurde, aber der sollte sie auch nicht verurteile­n. Nach 30 Jahren sollte es möglich sein, aus der Distanz fair zu bilanziere­n und nüchtern festzustel­len, dass mehr richtig als falsch gemacht wurde – und es nun versucht werden sollte, das Falsche von damals nicht heute zu wiederhole­n.

Die Hoffnung, dass sich das, was Soziologen Transforma­tion nennen, allein mit Geld und Gesetzen steuern ließe, wurde nach 1990 nicht erfüllt. Es war ein Irrtum, dass das, wofür die Bundesrepu­blik Jahrzehnte Zeit hatte, das doppelt diktaturge­schädigte Beitrittsg­ebiet binnen weniger Jahre absolviere­n könnte, vom wirtschaft­lichen Aufschwung über den Aufbau einer modernen Infrastruk­tur bis zur Entwicklun­g einer demokratis­chen und weltoffene­n Gesellscha­ft. Es fehlt dem Osten eben nicht so sehr, wie es oft anklagend heißt, an Dankbarkei­t. Eher fehlt es im Westen zuweilen immer noch an Respekt, Augenhöhe und dem Willen, sich auf die andere, östliche, ungewohnte Perspektiv­e überhaupt einzulasse­n.

Der 3. Oktober 2020 ist damit nur die nächste Zwischenma­rke auf einem Weg, dessen Ende nicht erkennbar bleibt. Und dennoch gibt es bei allem, was zu beklagen ist, ausreichen­d Gründe, ihn guten Mutes weiterzuge­hen.

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