Thüringer Allgemeine (Sondershausen)
Vom Wir zum Ich – und retour
Andris Plucis hat in Eisenach ein coronakompatibles Bach-Ballett choreografiert
Eisenach. Ausgerechnet Glenn Gould (1932-1982), den bewunderungswürdigsten Exzentriker im Pianistenhimmel, hat der Eisenacher Ballettchef Andris Plucis sich als Interpreten der Bach’schen „Goldberg-Variationen“für seine neue, coronakompatible Choreographie „Wir“ausgesucht. Die avancierte Aufnahme entstand April/Mai 1981 im 30th Street Studio, New York, denn der Kanadier trat schon seit 1964 nicht mehr öffentlich auf; die Anwesenheit fremder Leute beim manisch-obsessiven Akt des Klavierspiels störte ihn nur.
Zur Aria erscheint die 16-köpfige Compagnie vollzählig auf dem imaginären Schachbrett-Raster der leeren Bühne, vollführt, als sei dieses „Wir“nun ihr Thema, synchron, doch stets auf Abstand bedacht ein paar einfache Übungen – um sich mit den letzten Tönen sogleich zu zerstreuen, denn zu den einsetzenden Variationen gehört allein den Solipsisten das Feld. In 15 Soli begleiten wechselnde Akteure in Alltagskostümen – Menschen wie du und ich – den stupend spannungsgeladenen Tanz Gouldscher Klavierpranken über die Tastatur mit einem eher gestisch orientierten, nicht vordergründig expressiven oder gar artistischen Bewegungsrepertoire in wechselvollen Variationen, Wiederholungen inklusive.
Bachs Violin-Chaconne wirkt eher als Störfaktor
Das will nicht übermäßig originell sein, ist aber hübsch anzuschauen. Zarten Individualismus entfalten die Tänzer als Ausdruck ihres Soseins, obschon ihre abstrakten Körpergebärden sich nicht erkennbar – wie das nahezu mathematisch nachvollziehbare Variationsdenken Bachs, eine strenge GeistesEtüde – immer weiter vom thematischen Ursprung entfernen. Ein weißes Segel hängt vom Schnürboden herab und wird ebenfalls in seiner
Ausrichtung variiert. Auf dem Scheitelpunkt des musikalischen Geschehens setzt Plucis einen ästhetischen Bruch und implantiert die Chaconne aus Bachs d-MollPartita für Violine allein.
Das stört die Gouldsche Manie empfindlich, zumal jetzt Live-Musik angesagt ist.
Alexej Barchevitch, führender Kopf der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach, spielt dieses schwierige, melancholisch vergrübelte Werk recht fahl, ohne erkennbares Konzept und unter zurückgenommenem Virtuosentum gerade so eloquent, dass es seiner Kapellmeisterehre nichts abträgt. Unterdessen wechselt Plucis zum Pas de Deux, in den sich jene zwei Paare teilen, die professionell miteinander umgehen dürfen, weil sie es privatim ebenfalls tun. Vom Ich zum Wir: So war es Programm.
Zurück zur mathematischen Ausgangs-Formation
Nach zehn weiteren Variationen à la Goldberg-Gould legen die Tänzer der Eisenacher Compagnie sich zu Boden und werden mit weißen Laken – Leichentüchern? – bedeckt, als seien sie jetzt doch in Schönheit gestorben. Dazu sieht man auf dem Segel – nun Kino-Leinwand – alte Kindheitsfotos, offenbar jene der Tänzer. Warum, erschließt sich nicht. Aber alsbald, zur Reprise der Aria, stehen sie wieder, wie zu Beginn, recht vital in ihrer Schachbrett-Formation.
Bei der Deutung des enigmatischnichtigen Vorgangs hilft auch der Programmzettel keineswegs. Dort ließ Andris Plucis, der für die Linkspartei ein Stadtratsmandat wahrnimmt, Auszüge eines Essays „Bloß kein Weiter-so“der Öko-Ökonomin Claudia Kemfert (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) abdrucken. Sie plädiert anti-marktwirtschaftlich und fordert, Unternehmen sollten der Umwelt zuliebe kooperieren, statt aus Gewinninteresse zu konkurrieren. – Nun ja, als möglicherweise intendiertes politisches Ballett bleibt Plucis‘ „Wir“trotzdem wirr und über die aparte Variation des Abstrakten hinaus unverständlich.