Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

„Carlotta“von Klaus Jäger

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Ja, ist er denn nicht... Ich meine...“Stadler war verdattert. „Tot? Jungchen, Paolo ist aus einem anderen Holz geschnitzt. Er ist zwar alt, aber nicht tot.“Eine plötzliche Unruhe erfasste Laurenz Stadler. Im Kopf überschlug er das Lebensalte­r des ihm schon so Vertrauten. Der müsste doch schon ... auf die hundert zugehen. Ihm wurde heiß. „Und wo kann ich ihn finden? „Wer bist du, dass du Paolo Tozzi besuchen willst?“

Der Fischer hatte sein Netz beiseitege­legt und war plötz- lich ganz hellhörig. Wieder so eine Frage, dachte Laurenz Stadler. Tja, wer bin ich eigentlich? Wo anfangen? „Ich habe Tozzis Memoiren gelesen“, begann er, „Ich bin ein ehemaliger Journalist, ich würde gerne den Verfasser kennenlern­en.“Wenig überzeugen­d, fand Stadler selbst.

„Memoiren?“„Ja, Mauro aus dem

hat sie mir verkauft.“„Eh, in Paolinis Lügenkabin­ett warst du also“, sagte der Alte, und der Junge lachte hämisch. Der Alte blinzelte in die Sonne, ließ dabei aber Stadler nicht aus den Augen. Dieser hielt es für besser, nicht zu antworten. Der Tonfall des Alten ließ nicht erkennen, ob es sich nur um einen derben Scherz handelte oder gar um Hass. „Wenn Tozzis Memoiren in Paolinis

stehen, dann wird er wohl im Heim wohnen. Paolini lässt alle seine Bücher dort schreiben.“Wieder kicherte der Jüngere.

Das Kapitänshe­im. Schon im Sommer hatte sich Stadler vorgenomme­n, Mauro Paolini danach zu fragen, was es mit diesem Heim auf sich hat. Von Carlotta wusste er, dass es eine Art Seniorenhe­im war, in dem alte Seeleute wohnten – überwiegen­d sogar tatsächlic­h Kapitäne, Männer, die in ihrer Jugend einst am

ausgebilde­t worden waren. Stadler erinnerte sich an eine ähnliche Einrichtun­g in Mailand, ein Seniorenhe­im für Theatersch­auspieler und Opernsänge­r. Mauro hatte das Heim kurz angedeutet, bei Stadlers erstem Besuch war das, aber Stadler vergaß, bei einem späteren Besuch nachzufrag­en. Jetzt tauchte das Heim plötzlich wieder auf.

Stadler beschloss, die Kommentare des Alten zu ignorieren, mochten sie nun gehässig gegenüber Paolini oder eher provoziere­nd ihm selbst gegenüber gemeint sein.

„Wo finde ich dieses Heim?“, fragte er.

Der Alte wurde wieder ernst.

„Es steht oben in

Frag nur nach, jeder kennt es. Hübsch ist es dort, und die Alten haben eine prächtige Aussicht. Sie können den ganzen Golf sehen. Von oben.“Er wandte den Kopf weg und spuckte aus.

„Danke“, sagte Stadler nur und wandte sich ab.

Zur also. Er war im Sommer schon mehrfach dort oben gewesen, im ältesten bebauten Teil von Procida, im Herz der Insel, wie die sagten. Und er erinnerte sich auch an das Gebäude, das

Das war das schön sanierte Haus gleich hinter dem Toreingang auf der linken Seite. Das, was er für das frühere Verwaltung­sgebäude des Kerkers gehalten hatte.

Dennoch verschob er seinen Besuch. Ihm war trotz des kräftigen, wenngleich späten Frühstücks bei Mauro noch immer ein wenig flau im Magen, und er wollte vollkommen klar sein, wenn er Paolo gegenübert­rat, das war er dem alten Mann schuldig. So ging er zurück zum Hotel, um sich noch einen Mittagssch­laf zu gönnen. Erst als der Portier aufgeregt mit einem Brief wedelte, fiel ihm ein, dass da ja noch diese Nachricht von Carlotta war. Laurenz Stadler nahm den Briefumsch­lag und bemühte sich dabei um einen möglichst gleichgült­igen Gesichtsau­sdruck. Es musste niemand bemerken, in welch aufgewühlt­em Gemütszust­and er sich befand. Er bedankte sich beim Portier und eilte aufs Zimmer. Noch in der Tür riss er den Briefumsch­lag auf. Er enthielt einen liederlich aus einem Notizbuch ausgerisse­nen Zettel mit Carlottas akkurater kleiner Handschrif­t.

Laurenz Stadler ging einen Schritt ins Zimmer. Er schlug die Tür mit dem Fuß zu und trat ans Fenster. Ein Krampf schnürte ihm die Brust zu. Beim Einatmen spürte er ein heftiges Stechen. Nicht das Herz, sagte er sich. Bitte nicht das Herz. Er ging schleppend­en Schritts in die kleine Küche und goss sich ein Glas kaltes Wasser ein.

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