Thüringer Allgemeine (Sondershausen)
Während in Deutschland zum Jahresende die letzten Meiler vom Netz gehen sollen, setzen andere Länder in Europa verstärkt auf Kernkraft, um die Abhängigkeit von Öl und Gas zu reduzieren. Ein Überblick
In der Nacht zum Dienstag ist der Albtraum deutscher Atomkraftgegner wahr geworden: Ein neues EU-Gesetz stuft nun auch Investitionen in die Atomenergie europaweit als klimafreundlich ein. Um Mitternacht endete die Einspruchsfrist gegen die entsprechende Änderung der „Taxonomie“-Regeln, die mit dem Siegel für „grüne“Investments die Finanzierung dieser Projekte erleichtern soll.
Was in Deutschland auf viel Kritik stößt, wird anderswo in Europa sehnlich erwartet: Atomenergie ist in vielen EU-Staaten im Aufwind – erst begünstigt durch Klimaschutz und steigende Energiepreise, nun auch als Folge des Ukraine-Krieges. Jenseits von Deutschland werden in 12 der 27 EU-Staaten derzeit Atomreaktoren betrieben, die 110 Meiler sichern nach aktuellen Daten ein Viertel der europäischen Stromproduktion. Vielfach sind nun neue Atomprojekte in Planung. Ein Überblick über die Lage in der EU:
Das Nachbarland betreibt mit 56 Atomreaktoren die Hälfte aller Meiler in der Union, weltweit liegt es damit hinter den USA (93) auf Platz zwei noch vor China (53) und Russland (37). Frankreich bezieht fast 70 Prozent seines Stroms aus Atomkraft und erzeugt pro Kopf der Bevölkerung deshalb nur halb so viel CO2 wie
Deutschland. Damit das so bleibt, sind allerdings in den nächsten Jahren hohe Investitionen in Nachrüstung und Neubau von AKWs notwendig: Die EU-Kommission rechnet damit, dass Kraftwerksbetreiber europaweit schon bis 2030 etwa 50 Milliarden Euro in die Laufzeitverlängerung stecken müssen, mindestens die Hälfte davon in Frankreich. Und bis 2050 müssen nach Berechnungen sogar 400 Milliarden Euro investiert werden, um die Atomstrom-Produktion auf dem Niveau von heute zu halten. Präsident Macron hat ehrgeizige Pläne, weshalb ihm das neue Klimaschutzsiegel der EU sehr zupasskommt:
Mindestens sechs neue AKWs will er bis Mitte der 30er-Jahre bauen lassen, acht weitere Projekte sollen geprüft werden. Zudem plant Macron, dass bald Mini-Reaktoranlagen mit kurzer Bauzeit und weniger Atommüll die „Neuerfindung der Atomkraft“einläuten. Doch in der Realität kämpft Frankreich mit gewaltigen Problemen: Der Bau von Druckwasserreaktoren einer neuen Generation entpuppt sich als Milliardengrab – ein als Vorzeigeprojekt gedachter Reaktor in Flamanville ist seit 2007 im Bau, aber immer noch nicht betriebsbereit; die Kosten stiegen von 3,3 auf 19 Milliarden Euro. Und aktuell steht mehr als die Hälfte der französischen AKWs wegen Wartungsarbeiten und technischer Probleme still.
Mit sieben Atomreaktoren sichert Belgien die Hälfte seines Strombedarfs. Eigentlich sollten alle Meiler bis 2025 vom Netz gehen, doch der Ausstieg wurde jetzt verschoben. Die Regierung will einen Teil der Reaktoren bis 2035 weiterlaufen lassen und zugleich den Bau neuer Mini-AKWs prüfen.
Die neue Regierungskoalition hat die Rückkehr zur
Atomenergie beschlossen, vor allem aus Klimaschutzgründen: Die Laufzeit des einzigen AKW in Borssele (Provinz Zeeland) wird verlängert, außerdem sollen zwei neue Atomkraftwerke gebaut werden.
Zwei Atomkraftwerke betreibt Tschechien schon, sie liefern ein Drittel des Stroms. Um den vorgezogenen Kohleausstieg abzufedern, sollen am Standort Dukovany ein weiterer Reaktor und in Temelin wohl zwei neue Blöcke entstehen. In der benachbarten Slowakei liefern zwei Kraftwerke die Hälfte des benötigten Stroms, zwei neue Reaktoren gehen in den nächsten Jahren in Betrieb. Ungarn will sein Atomkraftwerk Paks um zwei neue Reaktorblöcke erweitern. Slowenien plant, die Laufzeit seines AKW Krsko um 20 Jahre zu verlängern.
Bislang hat das Land auf nukleare Energie verzichtet, wegen des Kohleausstiegs will Polen nun aber in die Atomkraft einsteigen: Zwei AKWs sollen im nächsten Jahrzehnt in Betrieb gehen, der Bau des ersten Reaktorblocks soll spätestens 2025 beginnen.