Thüringer Allgemeine (Sondershausen)
Internationale Stummfilmtage
Filme aus der Ukraine und aus dem Bestand des bei einem Brand teils zerstörten Filmarchivs in Brasilien sind Schwerpunkte der 38. Internationalen Stummfilmtage in Bonn. Vom 11. bis 21. August werden im Arkadenhof der Uni populäre und unbekannte Titel der Frühzeit des Kinos auf großer Leinwand und mit Live-Musik aufgeführt, wie die Veranstalter mitteilten. 20 Filme werden jeweils abends präsentiert, der Eintritt ist frei.
Die kleine Weimarer Wohnung wirkt noch unbehaust, das Namensschild an der Klingel ist neu. Gerade erst ist Irina Scherbakowa angekommen. Die russische Historikerin, Germanistin und Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation „Memorial“war schon oft Gast in Thüringen. Doch dieses Mal ist ihr Kommen nicht selbstgewählt und auf längere Zeit: Putins Krieg gegen die Ukraine hat sie aus Russland getrieben. An der Jenaer Universität wird sie als Gastforscherin arbeiten. Ein sicherer Hafen für ihre wissenschaftliche Arbeit und für den Aufbau neuer Strukturen des aufgelösten „Memorial“, an dem sie mitwirken will.
Im Nachhinein erkenne ich darin einen Teil der Säuberungen in Vorbereitung des Krieges, um die Zivilgesellschaft zu paralysieren, damit niemand Proteste wagt. Dafür spricht auch die Eile, in der das Verfahren durchgezogen wurde.
Weil ich es nicht mehr ertragen kann, wie mich Ohnmacht, Zorn und Verzweiflung zerreißen. In Russland habe ich beim „Memorial“viel Bildungsarbeit mit Schülern und Studenten gemacht, wir haben Ausstellungen gestaltet, Bücher publiziert. Nichts davon könnte ich jetzt tun. Die Vorstellung, auf jedes Wort achten zu müssen das man schreibt und sagt, ist für mich sehr schwer. Ich denke, dass ich im Ausland für „Memorial“nützlicher sein kann. Viele unserer Mitarbeiter sind auch gegangen und wir sind dabei, neue Strukturen aufzubauen, „Memorial“war immer ein internationales Netzwerk. Und ich bin aus einer tiefen Enttäuschung und Wut darüber gegangen, dass so viele Menschen in Russland diesen Krieg richtig finden.
Wir in der Menschenrechtsszene haben schon immer vor der starken Gewalttradition in Russland gewarnt. Ein Menschenleben zählte unter Stalin nichts, das waren grausame Erfahrungen. Nach seinem Tod sind Enklaven der Gewalt geblieben, eine davon ist die Armee. Was jetzt in der Ukraine passiert, ist nicht neu, wir kennen das aus Afghanistan und später aus Tschetschenien, wo es zu grausamen Exzessen gegen die Zivilbevölkerung kam. Oder nehmen Sie die Strafkolonien in Russland, wo massiv gefoltert wird. Wir haben in Russland bis heute kein Gesetz gegen häusliche Gewalt, während so viele Frauen zusammengeschlagen und misshandelt werden. Das ist eine Schande. In den vergangenen Jahren häuften sich die Fälle, wo Inhaftierte von der Polizei misshandelt wurden. Das alles zeugt von einer Kultur der Gewalt, einer tiefen Missachtung des menschlichen Lebens, vor allem im Krieg. Das überträgt sich auf das Land, das jetzt durch Putins Propaganda als Feind gesehen wird.
Die Menschen sind doch bereits jetzt durch ihr Wegschauen und Leugnen traumatisiert. Es ist ein moralischer Zerfall, der furchtbare Folgen für den Umgang der Menschen
miteinander haben wird. Es geht um Werte wie Vertrauen, Wahrheit und Menschenliebe. Das wird bis in den Alltag hineinwirken, wenn die Soldaten nach Hause zurückkehren. Wir haben nach Afghanistan und Tschetschenien erlebt was mit Familien passiert, wenn Väter an Alkohol und Drogen zugrunde gehen, das wird jetzt in viel größerem Maße geschehen.
Russland muss diesen Krieg verlieren. Ich hoffe, das wird die Gesellschaft aufrütteln.
Ich bin beeindruckt von der Hilfe der deutschen Zivilgesellschaft für Geflüchteten, von der Welle der Solidarität mit der Ukraine. Das kann die einzige Antwort sein. Aber ich fürchte den Winter. Wir müssen uns nichts vormachen, alles wird teuer und Putin wird mit seiner Gas-Erpressung auch seine Propaganda mobilisieren. Es muss klar sein, dass Frieden um jeden Preis Putin nur die Möglichkeit geben wird, neue Kräfte zu sammeln. Wir befinden uns in einer Krise, in der es um neue Machtstrukturen in Europa geht. Es ist eine Prüfung für uns alle.