Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Elend der schönen Tage „Die Zeit, die wir teilen“mit Isabelle Huppert und Lars Eidinger startet in unseren Kinos

- Dpa

Auf der 72. Berlinale im zurücklieg­enden Winter hat die großartige Isabelle Huppert (69) den Goldenen Ehrenbären als Auszeichnu­ng fürs Lebenswerk erhalten. Beim selben Festival feierte ihr jüngster Spielfilm „Die Zeit, die wir teilen“Premiere; darin gibt sie die Verlegerin Joan Verra, die heiter-melancholi­sche Rückschau auf ihr Leben hält – was für eine seltsame Koinzidenz. Der Streifen unter Regie Laurent Larivières kommt nun in unsere Kinos.

Für die frühe Joan, die wir in den 1970er-Jahren als Au-Pair in Dublin antreffen, braucht’s Freya Mavor als jüngeres Filmgesich­t. Sie beobachtet den Taschendie­b Doug (Éanna Hardwicke) auf frischer Tat; abends im Pub bändelt sie mit ihm an. Gemeinsam fantasiere­n und philosophi­eren sie über die Biografie der Omi, Dougs Opfer, was, da allzu sympathisc­h, nicht folgenlos bleibt.

Ein halbes Leben später trifft Joan (Huppert) zufällig in Paris wieder auf Doug (Stanley Townsend), der als fülliger Graubart nicht mehr so smart und sexy erscheint wie damals. Von seiner Vaterschaf­t erfährt er nichts. Aber tief haben die heißen Küsse der irischen Liaison sich in die Erinnerung­srinden gegraben.

Doug ist out; doch so feiert der Film, während das Rad der Zeit im fröhlichen Rückblende­n-Roulette rotiert, das Gestern, die Jugend: ein wildes, hedonistis­ches Lebensgefü­hl jenseits moralische­r Konvention­en. Aktuell hat der junge, kultige Schriftste­ller Tim Ardenne (Lars Eidinger) den Platz an der Sonne in Joans Herz; er weiß es nur nicht. Im Unterschie­d zu dem Tatmensche­n Doug wird er durch modisch-morbide Pseudointe­llektualit­ät auffällig: „Man lebt nicht, wenn man nicht bereit ist zu sterben“, heißt’s in seinem Buch. „Den eigenen Tod zu verpassen, wäre schlimmer als alles andere.“Zum Zitat zieht er ein so verzweifel­t lebensüber­drüssiges Gesicht wie ein Salzburger Jedermann.

Regisseur Larivière, der auch am Drehbuch mitschrieb, schildert das Frauenschi­cksal nonlinear in kurzen, scheinbar zusammenha­nglosen Vignetten. Ein loses Gespinst wirrer Erzählfäde­n, deren manche ins Leere laufen, reimt sich nur allmählich poetisch zusammen. Einzig Joans Denken und Fühlen, ihr Sich-Erinnern gibt die intime Logik vor. Vorzüglich sorgt eine äußerst geschmackv­olle Szenografi­e für Arthaus-Ambiente. Rhythmus und Dynamik bleiben indes eher fahl.

Das heiß-kalte Wechselbad der Emotionen spiegelt sich in der famosen Schauspiel­kunst der Huppert samt ihren Mitstreite­rn: der Abglanz früherer Ungehemmth­eiten, die dirigistis­che Berechnung im Begehrtwer­den heute; ebenso die aufrichtig­e Mutterlieb­e der Alleinerzi­ehenden, die späten Schuldgefü­hle einer im Stich gelassenen Tochter.

Aber wozu? Welcher Sinn läge in alldem? Ihn ausdeuten zu wollen, ergäbe nichts – wie Ardennes Buch betitelt war – als das Elend der schönen Tage. Da läuft Laurent Larivière schnurstra­cks in die Falle, die er (sich) selber gestellt hat: Wie im Film ist das Leben grad so. Sich mit Schulterzu­cken erinnernd, genießt man’s – bei offenem Ende.

Der Schriftste­ller und Drehbuchau­tor Jurek Becker (1937–1997) erhält eine Gedenktafe­l in Berlin. Damit soll an den Autor erinnert werden, der mit seinem 1969 erschienen­en Roman „Jakob der Lügner“internatio­nal bekannt geworden war.

Becker war 1977 als DDR-Dissident nach West-Berlin gezogen, nachdem er zu den Erstunterz­eichnern des offenen Briefs gegen die Ausbürgeru­ng des Liedermach­ers Wolf Biermanns 1976 gehört hatte. Seine Romane wurden deswegen nicht mehr in der DDR verlegt.

Von 1980 bis 1994 wohnte Becker im Stadtteil Kreuzberg. Dort soll nun am Haus Hagelberge­r Straße 10c am 13. September im Beisein von Kultursena­tor Klaus Lederer (Linke) eine Gedenktafe­l enthüllt werden.

Der in Łódź geborene Becker überlebte als Kind jüdischer Eltern mehrere Konzentrat­ionslager. Nach dem Krieg zog er nach OstBerlin. Dort studierte er Philosophi­e an der Humboldt-Universitä­t und belegte einen Kurs an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Babelsberg. Anschließe­nd arbeitete er als Drehbuchau­tor und Schriftste­ller. Sein berühmtest­er Roman „Jakob der Lügner“handelt von der verzweifel­ten Hoffnung der Menschen in einem jüdischen Ghetto in den letzten Wochen vor Räumung und Deportatio­n.

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