Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Denkmal mit abenteuerl­icher Biografie Warum im Erfurter Ortsteil Bischleben-Stedten immer wieder neue Gedenktafe­ln unter einer Eiche angebracht werden

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Biografien sind Darstellun­gen von Lebensläuf­en, welche eigentlich uns Menschen vorbehalte­n sind. Aber auch Tiere, Pflanzen oder Gegenständ­e, die dem Menschen dienen, wie das Wohnhaus oder das Auto, gehören zu dieser besonderen Gattung.

Nun können engagierte Kulturfreu­nde wie Harald Hübner in Erfurt-Möbisburg ebenso von einer solchen Erfahrung berichten, über die alte Eiche und den Gedenkstei­n an der Straße im Ortsteil Stedten, unweit der kleinen Kirche und gegenüber der früheren Einfahrt zum damaligen Schloss. Hier prägt ein großer, stattliche­r Baum, eine Stieleiche, seit etwa 250 Jahren die Landschaft sowie den Straßenrau­m und erfreut mit ihrer Vitalität seit mehr als zehn Generation­en die Bewohner und Besucher dieses Ortes.

Der Pflanzterm­in dieser Eiche könnte in der Erbauungsz­eit des Schlosses zu finden sein. Das wäre eine spannende Aufgabe für eine dendrologi­sche Untersuchu­ng, wie Fachleute die Altersbest­immung von Bäumen nennen. Ist der Baum gar ein Symbol der Fertigstel­lung des Schlosses nach langer Bauzeit, etwa um das Jahr 1750 und damit die Idee für einen Gedenkort an dieser Stelle?

Mit den Dokumenten zur Ortsgeschi­chte ist belegt, dass eine Generation später Gäste wie Goethe oder Wieland im Schloss der Familie des Grafen Keller verkehrten. Nach weiteren fünf Generation­en kann man im Dezember 1912 im lokalen Monatsblat­t der Gemeinden Bischleben, Rhoda und Stedten (Gotha) lesen, „daß am Sonntag, den 8. September die Einweihung des Gedenkstei­ns zur Erinnerung an die Krieges- und Siegesjahr­e 1870 / 1871“begangen wurde.

Aus den letzten 110 Jahren ist das die einzige Quelle zu dem Gesamtdenk­mal „Baum und Stein“und zeigt mit der Begründung die Perversion der Geschichte im 19. Jahrhunder­t, die deutsch–französisc­hen Kriege mit der Gründung des deutschen Reichs als sogenannte­n Sieg. Dabei war es immer der jeweilige Zeitgeist, der die Ideen für das Denkmal gebar.

Die folgenden schrecklic­hen beiden Weltkriege änderten an dieser Erfahrung auch im 20. Jahrhunder­t nichts. Für den Gedenkort an der Dorfstraße in Stedten bedeutete dies, dass mit der DDR-Gründung 1949 als Ergebnis der späteren Landwirtsc­haftspolit­ik in Stedten die LPG Thomas Müntzer entstand. Mit dem Namenspatr­on Müntzer, der als protestant­ischer Pfarrer vor über 500 Jahren den revolution­ären Bauern eine Stimme gab, war damit ein neuer Inhalt gegeben.

Der Gedenkstei­n der „Kriegsund Siegesjahr­e“entwickelt­e sich nun zum Denkmal für die Leitfigur des Fortschrit­tes auf dem Lande, für eine moderne Form der Landwirtsc­haft ohne Einzelbaue­rn. Die Müntzer-Büste wurde damals von dem Erfurter Bildhauer Christian Paschold (1949 – 2021) gestaltet, die neben der Eiche auf einem Sockel stand.

Die gesellscha­ftlichen und wirtschaft­lichen Umbrüche der Jahre 1989/1990 führten zur Überwindun­g der deutschen Teilung, die aus dem 2. Weltkrieg resultiert­e. Nach der Deutschen Einheit vor 32 Jahren wurden frühere Entwicklun­gen hinterfrag­t, so auch das Thomas Müntzer-Denkmal in Stedten. Das Ergebnis der Überlegung­en führte zu dem Entschluss , dem Gedenkort einen neuen Sinn zu geben. Das wurde in die Tat umgesetzt und ist seit dem 9. Juli dieses Jahres zu besichtige­n: Die neue Gedenktafe­l trägt den Schriftzug „Zur Erinnerung an die Befreiungs­kriege 1813 – 1815“und ist mit den grafischen Symbolen des Eisernen Kreuzes und der Eichenblät­ter mit Frucht verziert. Damit beginnt ein weiterer Lebensabsc­hnitt für den Gedenkort, dessen Bezug für den Betrachter zu erklären ist.

Die genannten Befreiungs­kriege beziehen sich auf den Diktator Napoleon I., der gesamt Europa beherrsche­n wollte und deshalb zahlreiche Kriege führte. Das geschah drei Generation­en nach der Errichtung des Schlosses Stedten und zwei Generation­en vor der Gründung des Deutschen Reiches. Das letztere Ereignis war schließlic­h der Anlass, zwei Generation­en später, am 8. September 1912, den Gedenkstei­n in Stedten, unter der sogenannte­n Kaisereich­e (Wilhelm I.) einzuweihe­n.

Für die nun erfolgte neue Sinngebung des Gedenkorte­s hätte die „demokratis­che“Bodenrefor­m mit dem abgerissen­en Schloss Stedten sowie den Enteignung­en und Vertreibun­gen nach dem Krieg, in den Jahren nach 1945, als Thema unserer jüngeren Regionalge­schichte gut angestande­n. Das wird nun abermals einer nächsten Generation vorbehalte­n bleiben.

Es ist dieses sich schlängeln­de Flüsschen Leina, das von einem begrünten Band begleitet wird, das mich immer wieder fasziniert. Ich steige vom Rad und betrachte den Pflanzente­ppich, der in seiner Breite variiert. Er ist abhängig vom Stand des Wassers, das gegenwärti­g die Erde nur wenig durchtränk­t. Doch ganz verliert sich das Leuchten des Grüns nicht. Immer noch ist es üppig in der Nähe der Strömung. Es duldet und fördert das Leben von Tieren in seiner Nähe.

Graugänse tummeln sich auf dem ausgedehnt­en Dorfanger. Höckergäns­e sind die Exoten, die sich in einer anderen Schar zusammenfi­nden, als wollten sie nichts von ihren gefiederte­n Verwandten wissen. Laufenten strecken mir ihre wunderlich langen Hälse neugierig entgegen und suchen das Weite am sumpfigen Ufer. Hühner scharren mit ihrem Gackern und schwatzend­en Singsang in der Nähe von Gärten. Die Ortsmitte haben die Leinaer in ihrer behagliche­n Gestalt belassen. Die Häuserzeil­en, die Kirche und das Pfarrhaus weichen in wohltuende­m Abstand vor dem Natur-Idyll zurück. Nur das schnattern­de und gackernde Gefieder belebt die Oase der Stille.

Am Ufer beobachtet eine Dorfbewohn­erin aufmerksam ihre Schar Graugänse. Laut kreischend watscheln sie mir entgegen. Ich sei ein Fremdling für sie und der Grund für ihre aggressive Erregung, erklärt mir die Hüterin. Mit einem impulsiven Ausholen ihres langen Steckens jagt sie ihre Schar zurück in die strömende Leina. Sie könne mit dem Stock auch das Gegenteil bewirken. Schlüge sie mit ihm auf die Erde, sei es ein Signal für ihre Gänse, ihr am Abend in den Stall zu folgen. Konrad Lorenz, der Verhaltens­forscher an Graugänsen, kommt mir augenblick­lich in den Sinn. Auch er veranlasst mich, noch einmal den Blick zur weitläufig­en Schönheit des Dorfangers zu wenden.

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