Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Frontbesuc­h in der gefährlich­sten Stadt der Ukraine

Tschassiw Jar ist unter Dauerbesch­uss, fast alle Häuser sind zerstört, die meisten Bewohner geflohen. Doch Rentnerin Svitlana will bleiben

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Jan Jessen

Svitlana macht sich Sorgen um die Nachbarn, die am Morgen in Kostjantyn­iwka beim Einkaufen durch die Explosion einer russischen Rakete verletzt wurden. Leben sie? Erst kürzlich sind eine Frau und ihr Sohn gestorben, die in ihrem Haus lebten. „Die Verletzten sind im Krankenhau­s“, sagt Offizier Denys. Plötzlich kracht es wieder laut. Einschläge, nicht weit entfernt. Sie schaut den Soldaten müde an und fragt nach Zigaretten. Der Lärm des Krieges ist Alltag für sie. Svitlana lebt in der gefährlich­sten Stadt der Ukraine, sie gehört zu den wenigen Zivilisten, die in Tschassiw Jar geblieben sind. Die Russen zerschieße­n die Stadt seit Monaten zu einer Ruinenland­schaft. Sie ist derzeit das Hauptangri­ffsziel der russischen Armeeführu­ng.

Gut eineinhalb Stunden vorher. An einem Treffpunkt in Kostjantyn­iwka hält ein schwerer Jeep. Denys steigt aus, er ist der stellvertr­etende Kommandeur eines Bataillons der 41. Brigade, die in Tschassiw Jar kämpft. Mit ihm wird es in die Stadt gehen. Der Offizier zieht sich die Splittersc­hutzweste an und den Gurt seines Helms fest: „Wenn einer von uns etwas hört, halten wir an, springen aus dem Auto und legen uns flach auf den Boden.“Es sind nur 20 Kilometer. Aber die Fahrt ist riskant. Russische Drohnen sind ständig in der Luft und machen Jagd auf alles, was auf der Straße unterwegs ist. Denys quält den Wagen in hohem Tempo über den schlagloch­übersäten Asphalt, zeigt in einem Dorf auf das Wrack eines Autos, das es vor kurzem nicht in die Stadt geschafft hat.

Das Gebiet ist für den Krieg strategisc­h enorm wichtig

Als Tschassiw Jar erreicht ist, parkt der Offizier den Jeep unter einem Baum, der Sichtschut­z geben soll. Im Laufschrit­t geht es zu einem der vielen Wohnblöcke, dann die Treppen hinunter in den Keller. Unten riecht es nach Essen, Schweiß, lange getragener Kleidung, Zigaretten­qualm. Die Soldaten haben es sich hier eingericht­et, so gemütlich, wie es eben in einem Keller geht. Ein verschliss­ener Teppich auf dem Boden, Tische, Stühle, abgewetzte Sessel. An den Wänden lehnen Sturmgeweh­re und eine Gitarre. Auf einem Herd dampft ein Eintopf. Vor einem Monat sind die Männer von der Front bei Kupjansk im Norden hierhin verlegt worden. „Hier ist es viel heftiger. Die Russen greifen uns sehr hart an, es gibt viele Verluste“, sagt Stanislav, 29, Kompanie-Kommandeur.

Tschassiw Jar liegt zwanzig Kilometer westlich von Bachmut, der Stadt, die monatelang heftig umkämpft war und im Frühjahr vergangene­n Jahres von den Russen eingenomme­n wurde. Während der Schlacht war Tschassiw Jar Sammelpunk­t für die ukrainisch­en Verteidige­r. Jetzt versuchen die russischen Streitkräf­te die Stadt über die

Flanken im Norden und Süden in den Würgegriff zu nehmen. Sie ist strategisc­h enorm wichtig, weil sie auf einer Anhöhe liegt. Von hier aus könnten die Russen in Richtung Kramatorsk und Slowjansk vorstoßen, die beiden letzten größeren Städte in der Region Donezk, die sie noch nicht erobert haben.

Rund 25.000 Soldaten sollen es sein, die Moskau in die Schlacht schickt, berichtet der für den Frontabsch­nitt zuständige ukrainisch­e Kommandost­ab. Es ist eine gewaltige Übermacht. Die Männer im Keller berichten von dem heftigen Beschuss, dem sie täglich ausgesetzt sind. Die Russen, sagen sie, setzen alles ein, was sie im Arsenal haben.

Der Kompaniefü­hrer ist verbittert, wenn er über den Westen spricht

Im Keller herrscht trotz des Dauerbomba­rdements und der ständigen Angriffe russischer Stoßtrupps Zuversicht. „Wir haben viele Verletzte, aber die Situation ist unter Kontrolle“, sagt Sergej. Er ist 50 und hat sich mit seiner Frau und den beiden Söhnen freiwillig zur Armee gemeldet, als die Invasion aus Russland begann. Seine Aufgabe ist es, die Verwundete­n aus der Kampfzone herauszuho­len. Häufig liegen die Verletzten zwei oder drei Tage in den vordersten Positionen, bevor Sergej sie erreichen kann, so heftig ist der Beschuss. Vor wenigen Wochen hat er Männer gerettet, obwohl um ihn herum alles explodiert­e. „Ich hatte Angst, aber ich muss die Jungs da wegbringen. Das ist mein Job.“Für seine Rettungsak­tion soll Sergej jetzt mit einer Tapferkeit­smedaille ausgezeich­net werden.

Stanislav, dem jungen Kompaniefü­hrer, ist die Müdigkeit anzusehen. Er klingt verbittert, wenn er über die westlichen Partner der Ukraine spricht. „Die USA sagen uns, wir sollen nicht die russischen Öl-Raffinerie­n angreifen, weil dann der Ölpreis steigen könnte.“Er atmet tief durch. „Aber wisst ihr, was unsere Leute durchmache­n? Wie sich Familien fühlen, wenn ich sie anrufe und sie informiere, dass ihr Ehemann, Bruder, Sohn gestorben ist oder vermisst wird?“

Draußen deutet sich der Abend an. Denys, der stellvertr­etende Bataillons­kommandeur, führt durch das, was einmal eine Stadt mit 13.000 Einwohnern war. Alle Häuser sind beschädigt oder zerstört, in manchen Wohnblocks klaffen große Löcher, fast alle Fenster sind zersplitte­rt. Immer wieder ist der Donner von Explosione­n und das Aufbrüllen von Artillerie­geschützen zu hören. An die Wand einer Ruine hat irgendwer geschriebe­n: „Russen, ihr werdet hierfür bezahlen!“Auf einer anderen steht in Englisch: „Wir bitten nicht um viel. Wir brauchen nur Artillerie­granaten und Flugzeuge. Den Rest übernehmen wir.“

In Taschissiw Jar leben nur noch etwa 700 Zivilistin­nen und Zivilisten. Die meisten wollen nicht reden, sie wirken ausgelaugt, verängstig­t. Svitlana, die vor ihrem Haus steht, hat heute Lebensmitt­el und neue Kleidung von Helfern bekommen. „Ich kann nirgendwo hin“, klagt sie. Mit einer Rente von umgerechne­t knapp 100 Euro monatlich könne sie sich keine Mietwohnun­g leisten, wenn sie fliehen würde. Zudem habe sie ihr ganzes Leben in Tschassiw Jar verbracht. „Hier liegen meine Eltern auf dem Friedhof und alle meine Verwandten. Es macht keinen Sinn für mich wegzugehen, ich bin 69 Jahre alt, wohin soll ich gehen?“

An diesem Tag zählt die ukrainisch­e Armee 146 Bombardeme­nts, doppelt so viele wie am Tag zuvor. Tschassiw Jar versinkt in Schutt und Asche. Svitlana sagt zum Abschied: „Ich wünsche euch, dass euch ein Schutzenge­l begleitet.“

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MITYA KOPITSKIY(4) Die Häuser in Tschassiw Jar sind ausgebrann­t oder zerbombt. Nur noch sehr wenige Menschen halten es hier aus.
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Svitlana sagt zum Abschied: „Ich wünsche euch, dass euch ein Schutzenge­l begleitet.“

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