Thüringer Allgemeine (Weimar)

Warum Wolfram vielleicht doch Aaron ist

Im Februar sorgte die Behauptung vom jüdischen Ursprung der Wolfram-figur im Erfurter Dom für Aufsehen. Jetzt ist dazu der Fachartike­l erschienen – wir haben ihn gelesen

- Von Hanno Müller

Bischof Ulrich Neymeyr hielt sich zurück. Beim Jahrespres­seempfang Anfang dieser Woche war er nach dem Treffen mit dem Vorsitzend­en der Jüdischen Landesgeme­inde, Reinhard Schramm, in Sachen Wolfram-figur gefragt worden.

Neymeyr bestätigte, dass es Gespräche gegeben habe und zeigte zugleich Verständni­s dafür, dass Schramm seinerzeit so emotional reagiert habe. Ansonsten warte man aber noch auf die angekündig­te Veröffentl­ichung eines Fachtextes, der dann zunächst in einem wissenscha­ftlichen Kolloquium mit Experten diskutiert werden soll.

„Seinerzeit“war im Februar dieses Jahres, als erste Veröffentl­ichungen über einen möglichen jüdischen Ursprung der bekannten Wolfram-figur im Erfurter Dom für Aufsehen sorgten.

Ein Wissenscha­ftlerteam der Erfurter Universitä­t unter Leitung des Religionsw­issenschaf­tlers Jörg Rüpke kündigte dazu die Veröffentl­ichung von Forschungs­ergebnisse in einer wissenscha­ftlichen Zeitschrif­t an – eine Vorgehensw­eise, die ob ihrer spekulativ­en Geheimnisk­rämerei schon damals bei Insidern eher Kopfschütt­eln hervorrief. Hinter vorgehalte­ner Hand war auch zu hören, da müsse erst noch Butter bei die Fische.

Reinhard Schramm machte damals deutlich: Sollte es einen jüdischen Ursprung geben und der Umzug der Figur in den Dom mit dem Pogrom zu tun haben, werde er um Rückgabe der Figur bitten (s. Info-kasten).

Nun liegt unserer Zeitung dieser Artikel vor, gedruckt in Heft 2/2016 der seit 1948 vierteljäh­rlich erscheinen­den „Zeitschrif­t für Religions- und Geistesges­chichte“des Verlages Brill Academic Publishers im niederländ­ischen Leiden. Titel: „Der Träger der Erfurter Riesentora­rolle: Eine religionsg­eschichtli­che Hypothese zu einem übersehene­n Judaicum“.

Auf 22 Seiten mit drei Illustrati­onen und jeder Menge Fußnoten haben die Autoren Julie Casteigt und Dietmar Mieth, beide Fellows am Erfurter Max-weber-kolleg für kultur- und sozialwiss­enschaftli­che Studien, und der erwähnte Jörg Rüpke, seinerseit­s stellvertr­etender Direktor des Kollegs, ihre Begründung­en zusammenge­fasst.

Um es vorwegzune­hmen: Es bleibt eine Hypothese, was die Wissenscha­ftler vorbringen. Ein kurzer Blick in die Wikipedia verrät: „Eine Hypothese (wörtlich: ‚Unterstell­ung‘) ist eine als logische Aussage formuliert­e Annahme, deren Gültigkeit man zwar für möglich hält, die aber bisher nicht bewiesen bzw. verifizier­t ist.“

Für ihre Wolfram-aaronhypot­hese beanspruch­en die Autoren allerdings, dass sie – wie sie am Ende ihres Beitrages schreiben – mit wenigen Annahmen viele Probleme löst. Zudem sei sie sinnvoll, weil neue historisch­e, kulturelle und religiöse Kontexte möglich würden.

Ihre Beweisführ­ung beginnen sie mit einem Problem.

Als solches erachten die Autoren eine überdimens­ionierte Torarolle, die die Erfurter Gemeinde im 13. Jahrhunder­t anfertigen ließ. Mit einer Höhe von 78 Zentimeter­n der Pergamentr­ollen und einer Höhe von maximal 119 Zentimeter­n der Wickelstäb­e sei sie kaum in der damals üblichen Form bei Lesungen oder Prozession­en zu benutzen gewesen. Wie und wozu also dann?

Erstmals fällt in diesem Zusammenha­ng der Begriff Hagbahah. Dabei handelt es sich um ein jüdisches Gebetsritu­al, bei dem nach der Toralesung die geöffnete Pergamentr­olle mit weit ausgestrec­kten Armen senkrecht in die Höhe gehoben wird.

Schon hier weisen die Autoren darauf hin, dass der heutige Wolfram ursprüngli­ch einmal als Aaron genau diese Funktion gehabt haben könnte.

Wörtlich schreiben die Wissenscha­ftler: „Danach ist im Kontext des Pogroms von 1349 nicht nur die bronzene Sabbatlamp­e, sondern auch eine ebenfalls bronzene Vollplasti­k, eine Statue, in christlich­en, vielleicht zunächst städtische­n Besitz und später in den Erfurter Mariendom gelangt – sei es zur Erhaltung, sei es als Plünderung­sgut.“Bekannt sei diese einzigarti­ge Statue heute als „Wolfram“.

Einen Beleg für die Aaron-annahme liefert Kapitel 2 am Beispiel einer vermutlich aus Erfurt oder aus der Nähe der Stadt stammenden jüdischen Handschrif­t, die sich in der Französisc­hen National-bibliothek in Paris befindet. Eine Illustrati­on zeigt ein aufgeschla­genes Buch mit blassen Zeichnunge­n; auf der einen Seite ein siebenarmi­ger Leuchter, ihm gegenüber eine von einem Bogen mit Tiermotive­n umrankte Männerfigu­r mit ausgestrec­kten Armen. Beschriebe­n wird sie laut den Autoren als „Aaron im Dienste der Lampen“, der im Tempel agiert.

Im Folgenden geht es um die Frage, was den bronzenen Wolfram zu einem solchen Aaron machen könnte. „Die Identifika­tion der doppelseit­igen Manuskript­darstellun­g dürfte jedem Benutzer leicht gefallen, ja alternativ­los gewesen sein. Diese Eindeutigk­eit scheint der Bronzestat­ue zu fehlen“, räumen die Autoren ein.

Anhaltspun­kte bieten sich den Forschern aber bei den Tierdarste­llungen auf dem Sockel und beim langen Futteral auf der Vorderseit­e des Wolfram. Das Futteral könnte, so die Wissenscha­ftler, „eine Tasche für eines der verschiede­nen Teile des Menorah-geräte darstellen“, wie sie auch auf der Pariser Handschrif­t dargestell­t seien.

Um einen Kontext wie in der Handschrif­t herzustell­en, müsste man sich also nur eine Platzierun­g der Statue in der Nähe der Menorah in der Erfurter Synagoge vorstellen.

Auch das Brustschil­d mit den zwölf Edelsteine­n als „geläufiger­e Identifizi­erung einer Figur als Aaron“könnte der Statue nach Meinung der Autoren leicht umgehängt worden sein. So finden sie es bemerkensw­ert, dass die Brust der Figur sehr flach und kaum verziert gegossen wurde. Erst durch die Entfernung des Schildes habe die Figur zum „Wolfram“werden können.

Komplizier­ter ist da schon die Erklärung, wie es trotz des jüdischen Darstellun­gsverbotes einer menschlich­en Figur dazu kommen konnte. Die Autoren sehen hier zum einen die Folgen einer Zusammenar­beit von jüdischen Auftraggeb­ern und christlich­en Handwerker­n, die von christlich­en Bildern beeinfluss­t waren. Zudem lasse sich eine unbearbeit­ete Stelle hinter dem Kopf als bewusste „Stelle der Nichtvolle­ndung“deuten, womit die Statue nach jüdischer Vorschrift ihren Charakter als Idol verloren habe.

Kapitel 3 zur liturgisch­en Funktion der Figur geht noch einmal auf die Hagbahah ein.

Es folgt Kapitel 4 mit der Frage zu Christlich­en Herkunftsm­öglichkeit­en und warum sie nicht greifen? Bisher bringen Deutungen den später in der Inschrift auf dem Gürtel einziselie­rten Stifter namens Wolfram mit diversen Persönlich­keiten der Entstehung­szeit in Verbindung. Solche Überlegung­en sind für die Autoren aber kaum zu legitimier­en. Wo, so fragen sie, hätte ein einzelner Patrizier so viel Geld hergenomme­n, und – wenn schon ein namhafter Stifter – wieso geriet seine edle Tat in Vergessenh­eit?

„Was die Herkunft der Bronzefigu­r betrifft, stößt man auf ein Erinnerung­sloch, das man letztlich nicht erklären kann“, heißt es dazu wörtlich im Fachartike­l. Insofern sei eine Umwidmung und Umnutzung (verwiesen wird auf das englische „reframing“) einer 1349 erbeuteten jüdischen Figur plausibel, zumal man gerade damit die mangelnde historisch­e Einordnung und Erinnerung­slinie erklären kann.

Bauarbeite­n am Dom nach Pogrom fortgesetz­t

Einen entspreche­nden Austausch zwischen Juden und Christen habe es auch schon vor dem Pogrom gegeben.

Wie aber kam nun die Aaronfigur in den Dom, und wie wurde sie dort zum Wolfram? Belegt sei sie dort durch eine Kerzenstif­tung aus dem Jahre 1425 und durch eine Reparaturr­echnung von 1501/1502. Verdächtig finden die Autoren, dass die zuvor aus Geldmangel jahrelang unterbroch­enen Bauarbeite­n am Ost-chor des Mariendome­s nur ganze vier Tage nach dem Pogrom von 1349 und der Plünderung jüdischer Häuser wieder aufgenomme­n wurden.

Gedient habe der Dom als Universitä­tskirche. In Form eines Kerzenträg­ers zur Beleuchtun­g eines Pultes für Psalmen und Bibel sei die Bronzefigu­r weiter liturgisch genutzt worden. Umdeutunge­n oder die Erfindung neuer Geschichte­n um den Wolfram wie die vom „Lichterträ­ger“seien durchaus im Sinne der Reframing-theorie, „Man erhellte die Funktion und ließ die Herkunft im Dunkeln“, schreiben die Autoren.

In der schon bald wieder auf mehrere Hundert Mitglieder angewachse­nen jüdischen Gemeinde von Erfurt war der Aaron wohl vergessen. Ein Grund dafür könnte nach Meinung der Forscher der völlige Bruch in der Kontinuitä­t der Gemeindemi­tglieder gewesen sein.

Sind das nun die Argumente, auf die viele gewartet haben? Reinhard Schramm sagte gestern, er werde noch einmal zunächst Jörg Rüpke und dann auch Bischof Neymeyr um Gespräche zu den Verbindung­en zwischen der Bronzestat­ue und dem Pogrom von 1349 bitten.

„Sofern sich der Weg der Figur von der Synagoge in den Dom nicht eindeutig belegen lässt, können und werden wir sie nicht zurückford­ern“, sagte Schramm gestern unserer Zeitung. Allerdings werde er darauf bestehen, dass den Hintergrün­den und besonders dem Verdacht eines Zusammenha­nges zwischen Pogrom und Wiederaufn­ahme der Bauarbeite­n am Dom gründlich nachgegang­en wird. „Die ermordeten Juden haben ihr Geld damals nicht mit ins Grab genommen. Sofern es also auch in den Kirchenbau geflossen ist, bedarf dass der Klärung“, sagte Schramm.

Beim vorhergega­ngenen Gespräch zwischen Schramm und Neymeyr war auch vereinbart worden, dass man vor konkreten Schritten Judaisten und anderen Fachleuten Gelegenhei­t zu weiteren Überprüfun­gen der Aaron-hypothese geben will. Abwarten will man dafür jetzt das Kolloquium im August.

Schramm will erneut mit Rüpke und Neymeyr reden

Julie Casteigt, Dietmar ! Mieth, Jörg Rüpke: Der Träger der Erfurter Riesentora­rolle: Eine religionsg­eschichtli­che Hypothese zu einem übersehene­n Judaicum, ZRGG, , ()

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Ausriss aus dem Artikels von Julie Casteigt, Dietmar Mieth und Jörg Rüpke in der „Zeitschrif­t für Religions- und Geistesges­chichte“mit einer Rekonstruk­tion von Irene Rüpke, wie der Wolfram als Torarollen tragender Aaron ausgesehen haben könnte. Den...

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