Trotz Mindestlohns nicht mehr Geld
Was das Erfurter Grundsatzurteil zur Folge hat
Erfurt. Sie hat sich bis zur letzten Instanz geklagt – und verloren: Eine Brandenburgerin wollte nicht akzeptieren, dass ihr Arbeitgeber seit Anfang 2015 das ihr zustehende Urlaubs- und Weihnachtsgeld verrechnet, um den gesetzlichen Mindestlohn zu erfüllen. Die 53 Jahre alte Angestellte einer Klinik-servicegesellschaft pochte auf die 8,50 Euro pro Stunde und zusätzlich die im Arbeitsvertrag vereinbarten Sonderzahlungen. Knapp eineinhalb Jahre nach Einführung der Lohnuntergrenze fällte das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt am Mittwoch sein erstes Urteil zum Mindestlohn.
Was haben die höchsten deutschen Arbeitsrichter entschieden?
Nach dem Urteil des Fünften Senats können Arbeitgeber Sonderzahlungen in bestimmten Fällen anrechnen, um die Vorgaben des Mindestlohngesetzes zu erfüllen. Das gilt dann, wenn die Sonderzahlungen wie im Fall der Brandenburgerin verlässlich erfolgen und wie ein Entgelt für tatsächliche Arbeitsleistungen zu verstehen sind. Das heißt, die Sonderzahlungen sind nicht an einen bestimmten Zweck gebunden – beispielsweise wie eine Prämie für langjährige Betriebszugehörigkeit. Im konkreten Fall erfolgte die Urlaubsgeldzahlung vom Arbeitgeber, weil das so im Arbeitsvertrag vereinbart war – unabhängig davon, ob die Arbeitnehmerin in den Urlaub fuhr.
Warum handelt es sich um ein Grundsatzurteil?
Der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler sieht im Anrechnen bisheriger Zahlungen den Hauptkonflikt bei der Umsetzung des Mindestlohngesetzes, das seit Anfang 2015 gilt. Das Spektrum reiche vom Urlaubs- und Weihnachtsgeld über Prämien aller Art bis zum Trinkgeld in der Gastronomie, sagte der Rechtsprofessor der Universität Bremen. „Der Gesetzgeber hat sich über die Anrechnung solcher Zahlungen relativ wenige Gedanken gemacht.“
Wie sind die Reaktionen auf das Urteil?
„Über die Entscheidung können sich in erste Linie die Arbeitgeber freuen“, findet Däubler. Andere sehen in dem Urteil, das die Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt, den Willen des Gesetzgebers erfüllt, eine Lohnuntergrenze zu definieren – aber auch nicht mehr. Helga Nielebock, Juristin beim Dgb-bundesvorstand, bezeichnete das Urteil als „abträglich für Menschen, die wenig Geld haben“. Künftig müsste der Zweck von Sonderzahlungen genau geprüft werden. „Dadurch kann man viel retten.“
Wie haben die Vorinstanzen entschieden?
Die Angestellte in einer Cafeteria hatte 2015 beim Arbeitsgericht in Brandenburg an der Havel Klage eingereicht – und verloren. Auch beim Landesarbeitsgericht Berlin-brandenburg war sie im Januar 2016 mit ihrer Forderung gescheitert, dass Sonderzahlungen nicht angerechnet werden dürfen. Dabei spielte eine Rolle, dass sie das Urlaubsund Weihnachtsgeld jeweils in Höhe eines halben Monatsentgelts nicht in zwei Raten, sondern nach einer Betriebsvereinbarung verteilt über zwölf Monate erhält. Die Klägerin hat letztlich durch den Mindestlohn keinen finanziellen Vorteil – ihr Lohn bleibt konstant.
Für wen hat das Urteil eine Bedeutung?
Es könnte Hunderttausende Arbeitnehmer betreffen. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) spricht von einigen Millionen Nutznießern des Mindestlohns, den sie als „Erfolgsgeschichte“sieht. Das Institut der gewerkschaftsnahen Hans-böckler-stiftung geht von etwa fünf Millionen Arbeitnehmern aus, die vor der Mindestlohn-einführung weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienten.
Was hat das Mindestlohngesetz bisher bewirkt?
Nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat der Mindestlohn in Betrieben mit bisher vielen Geringverdienern zu Lohnsteigerungen geführt. In Ostdeutschland habe der Lohnanstieg auf Betriebsebene nach einem halben Jahr im Schnitt bei 5,2 Prozent gelegen, im Westen bei 3,4 Prozent. Gleichzeitig gebe es weniger Minijobs. dpa