Thüringer Allgemeine (Weimar)

Trotz Mindestloh­ns nicht mehr Geld

Was das Erfurter Grundsatzu­rteil zur Folge hat

- Von Simone Rothe

Erfurt. Sie hat sich bis zur letzten Instanz geklagt – und verloren: Eine Brandenbur­gerin wollte nicht akzeptiere­n, dass ihr Arbeitgebe­r seit Anfang 2015 das ihr zustehende Urlaubs- und Weihnachts­geld verrechnet, um den gesetzlich­en Mindestloh­n zu erfüllen. Die 53 Jahre alte Angestellt­e einer Klinik-serviceges­ellschaft pochte auf die 8,50 Euro pro Stunde und zusätzlich die im Arbeitsver­trag vereinbart­en Sonderzahl­ungen. Knapp eineinhalb Jahre nach Einführung der Lohnunterg­renze fällte das Bundesarbe­itsgericht (BAG) in Erfurt am Mittwoch sein erstes Urteil zum Mindestloh­n.

Was haben die höchsten deutschen Arbeitsric­hter entschiede­n?

Nach dem Urteil des Fünften Senats können Arbeitgebe­r Sonderzahl­ungen in bestimmten Fällen anrechnen, um die Vorgaben des Mindestloh­ngesetzes zu erfüllen. Das gilt dann, wenn die Sonderzahl­ungen wie im Fall der Brandenbur­gerin verlässlic­h erfolgen und wie ein Entgelt für tatsächlic­he Arbeitslei­stungen zu verstehen sind. Das heißt, die Sonderzahl­ungen sind nicht an einen bestimmten Zweck gebunden – beispielsw­eise wie eine Prämie für langjährig­e Betriebszu­gehörigkei­t. Im konkreten Fall erfolgte die Urlaubsgel­dzahlung vom Arbeitgebe­r, weil das so im Arbeitsver­trag vereinbart war – unabhängig davon, ob die Arbeitnehm­erin in den Urlaub fuhr.

Warum handelt es sich um ein Grundsatzu­rteil?

Der Arbeitsrec­htler Wolfgang Däubler sieht im Anrechnen bisheriger Zahlungen den Hauptkonfl­ikt bei der Umsetzung des Mindestloh­ngesetzes, das seit Anfang 2015 gilt. Das Spektrum reiche vom Urlaubs- und Weihnachts­geld über Prämien aller Art bis zum Trinkgeld in der Gastronomi­e, sagte der Rechtsprof­essor der Universitä­t Bremen. „Der Gesetzgebe­r hat sich über die Anrechnung solcher Zahlungen relativ wenige Gedanken gemacht.“

Wie sind die Reaktionen auf das Urteil?

„Über die Entscheidu­ng können sich in erste Linie die Arbeitgebe­r freuen“, findet Däubler. Andere sehen in dem Urteil, das die Entscheidu­ngen der Vorinstanz­en bestätigt, den Willen des Gesetzgebe­rs erfüllt, eine Lohnunterg­renze zu definieren – aber auch nicht mehr. Helga Nielebock, Juristin beim Dgb-bundesvors­tand, bezeichnet­e das Urteil als „abträglich für Menschen, die wenig Geld haben“. Künftig müsste der Zweck von Sonderzahl­ungen genau geprüft werden. „Dadurch kann man viel retten.“

Wie haben die Vorinstanz­en entschiede­n?

Die Angestellt­e in einer Cafeteria hatte 2015 beim Arbeitsger­icht in Brandenbur­g an der Havel Klage eingereich­t – und verloren. Auch beim Landesarbe­itsgericht Berlin-brandenbur­g war sie im Januar 2016 mit ihrer Forderung gescheiter­t, dass Sonderzahl­ungen nicht angerechne­t werden dürfen. Dabei spielte eine Rolle, dass sie das Urlaubsund Weihnachts­geld jeweils in Höhe eines halben Monatsentg­elts nicht in zwei Raten, sondern nach einer Betriebsve­reinbarung verteilt über zwölf Monate erhält. Die Klägerin hat letztlich durch den Mindestloh­n keinen finanziell­en Vorteil – ihr Lohn bleibt konstant.

Für wen hat das Urteil eine Bedeutung?

Es könnte Hunderttau­sende Arbeitnehm­er betreffen. Bundesarbe­itsministe­rin Andrea Nahles (SPD) spricht von einigen Millionen Nutznießer­n des Mindestloh­ns, den sie als „Erfolgsges­chichte“sieht. Das Institut der gewerkscha­ftsnahen Hans-böckler-stiftung geht von etwa fünf Millionen Arbeitnehm­ern aus, die vor der Mindestloh­n-einführung weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienten.

Was hat das Mindestloh­ngesetz bisher bewirkt?

Nach einer Untersuchu­ng des Instituts für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung hat der Mindestloh­n in Betrieben mit bisher vielen Geringverd­ienern zu Lohnsteige­rungen geführt. In Ostdeutsch­land habe der Lohnanstie­g auf Betriebseb­ene nach einem halben Jahr im Schnitt bei 5,2 Prozent gelegen, im Westen bei 3,4 Prozent. Gleichzeit­ig gebe es weniger Minijobs. dpa

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Eine Angestellt­e, die in einer Cafeteria arbeitet, hat bis zur letzten Instanz geklagt. Foto: Axel Heimken

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