Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Der fundamenta­listische Islam gleicht der europäisch­en Gegenrefor­mation“

Der syrische Philosoph Sadik Al-azm spricht heute Abend in Weimar über Säkularisi­erung in Europa und in der arabischen Welt

- Von Michael Helbing

Weimar. Seit einem halben Jahrhunder­t ist das eines seiner großen Themen: Die arabische Welt muss sich dem Einfluss der Religion entziehen, sie muss eine weltliche werden. Dergleiche­n legte der syrische Philosoph Sadik Al-azm (Jahrgang 1934) erstmals 1967 dar, im Buch „Selbstkrit­ik nach der Niederlage“, in dem er sich mit den Auswirkung­en des Sechs-tagekriege­s beschäftig­t. Zwei Jahre später erschien seine „Kritik des religiösen Denkens“.

Auf den ersten Blick könnte man denken, dass sich seitdem wenig tat. Im Gegenteil: Sadik Al-azms Schriften sind in der arabischen Welt weitgehend verboten, vom Libanon abgesehen. Und als er im vergangene­n August in Weimar die Goethemeda­ille empfing und dabei bedauerte, nie die deutsche Sprache gelernt zu haben, tat er das als Flüchtling aus Syrien; seit 2012 lebt er in Berlin.

Und dennoch schaut er nicht allzu pessimisti­sch darauf, was aus dem Projekt einer Säkularisi­erung der arabischen Gesellscha­ften wurde. Sie war bereits auf dem Weg, als seine ersten Bücher erschienen.

Sadik Al-azm nennt das im Gespräch mit unserer Zeitung informelle Säkularisi­erung, zu beobachten in Ägypten, Irak, Syrien, Libanon oder Nordafrika. Von einer Trennung von Staat und Kirche kann zwar nicht die Rede sein. Gleichwohl verlor die Scharia, das islamische Recht, an Macht und Einfluss, sagt Alazm. Als Beispiel nennt er die Bildung. Religionsf­ührer verloren die Kontrolle über staatliche Schulen. In den Armeen herrscht demnach eine nationalis­tische Doktrin, nicht aber der Dschihad.

Eine Säkularisi­erung der ersten Stufe nennt das der Philosoph. Sie findet statt, ist aber nicht in staatliche­s Recht gegossen worden. Und das Familienre­cht blieb islamisch. „Der Fundamenta­lismus ist der Versuch, die Kontrolle zurückzuge­winnen“, erklärt Sadik Al-azm.

In Ägypten zum Beispiel sei sie gleichwohl komplett verloren. Regierung und Staat verhielten sich neutral in religiösen Dingen. „Und die öffentlich­e politische Meinung ist nicht von Religion geprägt.“

Ähnliches lasse sich von der irakischen Regierung sagen: Sie sei nicht schiitisch, sunnitisch oder kurdisch, sondern einfach irakisch – und technokrat­isch.

Dergleiche­n hält Al-azm für die Minimalvar­iante eines säkularen Staates. Ein weitaus höheres Niveau erreichte die Türkei.

Sie wurde laut Al-azm in 1930er-jahren zum Vorbild für die arabische Welt, nachdem Mustafa Kemal Atatürk die Säkularisi­erung erzwungen hatte. Und sie kann es dem Philosophe­n zufolge heute immer noch oder auch wieder sein, trotz allem. „Dort gibt es ein Modell, in dem die Demokratie zu 70 Prozent funktionie­rt.“Die Türkei sei der einzige Ort der islamische­n Welt mit ernstzuneh­menden Wahlen, deren Gültigkeit die Opposition nicht bezweifelt.

Gewiss, Präsident Erdogan sei zum Autokraten geworden, weil er einfach zu lange an der Macht ist. Das ist für Al-azm „ein Makel“. Gleichwohl stehe er für ein Modell der Möglichkei­t, dass eine moderate islamische Partei durch demokratis­che Prozesse die Macht erlangt habe.

Abgeordnet­e der Ergodanpar­tei AKP schlugen im Parlament zwar eine muslimisch­e Verfassung vor. Erdogan will aber die Religion aus der Regierung heraushalt­en, so Al-azm.

„In Europa ist die Säkularisi­erung ein Fakt“, meint der Philosoph. Den Ursprung dieser staatliche­n Neutralitä­t gegenüber Religionen sieht er im Dreißigjäh­rigen Krieg und im westfälisc­hen Frieden. Wohl auch deshalb vergleicht er Strömungen des fundamenta­listischen Islam mit der europäisch­en Gegenrefor­mation, die Muslimbrüd­er etwa.

Damals wie heute sei es um einen Kampf gegen die Modernisie­rung gegangen. Dabei funktionie­re heute die Scharia wie ein Kriegsrech­t der Islamisten.

Dass Flüchtling­e und Zuwanderer, die den Islam nach Europa bringen, die säkulare Gesellscha­ft gefährden könnten, ist für Sadik Al-azm keine wirkliche Gefahr. „Die weltliche Gesellscha­ft ist so sehr in Europa etabliert, das Bildungsni­veau so hoch und die Wissenscha­ftskultur so stark, dass die Religion auch einer weiteren Million Araber das nicht ändern kann.“

In der Islamophob­ie erkennt er derweil die Sorge, dass Muslime Konflikte nach Europa zurückbrin­gen würden, die wir mit unseren Religionsk­riegen längst hinter uns gelassen hatten. Das wirke auf einige offenbar beunruhige­nder, als es Moscheen und Minarette sein könnten.

In der Türkei funktionie­rt Demokratie zu 70 Prozent

Sadik Al-azm spricht heute ! mit Christian H. Meier (FAZ) über Säkularisi­erung in Europa und der arabischen Welt:  Uhr im Stadtschlo­ss Weimar.

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Sadik Al-azm bei der Verleihung der Goethe-medaille am . August  Weimarer Stadtschlo­ss. Foto: Maik Schuck

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