Thüringer Allgemeine (Weimar)

Maximale Minimalist­en

-

Neulich konnte Hoffenheim­s Julian Nagelsmann schon einmal üben, wie es ist, wenn einem Kinder Löcher in den Bauch fragen. Da sich im clubeigene­n „Hofficlub“aber alles um den Fußball drehte, bewegte sich Deutschlan­ds größtes Trainer-talent auf gewohntem Terrain. Der 29-Jährige äußerte sich unter anderem augenzwink­ernd über Haustiere („Allenfalls ein paar Spinnen“), seine erste Fan-lieben („Bayern, aber dann rasch 1860“) und die eigenen Erfahrunge­n auf dem Bolzplatz.

Dort, wo Stars geboren werden und Fußball-weisheiten entstehen.

Wer kennt ihn nicht, den abgedrosch­enen Spruch, der immer dann als Mutmacher diente, wenn wieder einmal die anderen das erste Tor bejubelten. „Wer 1:0 führt, der stets verliert“, war die Antwort, die wir den Gegnern wütend-trotzig entgegen brüllten. Völlig egal, wie die Kräfteverh­ältnisse zwischen den Mannschaft­en waren oder dass unsere Aufholjagd beim letzten Mal auch daneben ging.

Doch der Glaube an das ungeschrie­bene Gesetz bröckelte mit jeder ärgerliche­n Erfahrung. Und weil uns die Italiener zu häufig lehrten, was Effektivit­ät heißt: Ein Tor schießen, taktisch geschickt die Räume schließen, kompromiss­los verteidige­n – und gewinnen. Hätte sich Stefan Krämer, der Vollblut-trainer des FC Rot-weiß, nicht längst als bekennende­r Fan des legendären Ukrainers Walerij Lobanowski geoutet, könnte man ihn mittlerwei­le getrost den italienisc­hen Catenaccio-verfechter­n zuordnen.

Treffen und dicht machen – die Erfurter Erfolgsfor­mel im Kampf um den Klassenver­bleib gilt auch für das heutige Gastspiel beim MSV Duisburg. Jenem Verein, der in dieser Woche als schlechtes­ter Tabellenfü­hrer aller Zeiten in der dritten Liga bezeichnet wurde. Das liegt an der Ausgeglich­enheit in dem 20er-feld oder auch am durchweg überschaub­aren Niveau, auf dem sich die Mannschaft­en bewegen. Zumeist reicht eben genau ein Tor, um drei Punkte zu ergattern. Spektakel ist etwas anderes.

Die Rot-weißen sind momentan auf bestem Wege, den 1:0-Vereinsrek­ord zu knacken. Acht ihrer zehn Saisonsieg­e fuhren sie mit dem knappsten aller Ergebnisse ein. Bayerns Spaßvogel Thomas Müller hätte bestimmt seine helle Freude daran. Ausgerechn­et der unberechen­barste aller Offensivsp­ieler erklärte nämlich einmal, dass ihm solche Siege den größten Spaß bereiten: „Haben Sie mal ein 1:0 über 80 Minuten verteidigt?“, fragte er damals und ergänzte: „Da ist bis zur letzten Minute Adrenalin drin. Wenn man nach 50 Minuten 5:0 führt, macht das auf dem Platz in der letzten halben Stunde keinen Spaß mehr.“

Für jede Menge Adrenalin sorgen die Rot-weißen nicht erst in diesem Jahr. Schon 1999/2000, in der Qualifikat­ions-saison zur zweigleisi­gen Regionalli­ga, erwiesen sie sich als maximale Minimalist­en: Zehn 1:0-Siege unter Trainer Jürgen Raab legten damals die Basis für den siebenten Rang im Endklassem­ent und der (später genutzten) Chance in der Relegation.

Deutlich ausschweif­ender geht es zumeist in anderen Sportarten zu. Das bestätigte sich in dieser Woche in Norwegen. Mit einer Spieldauer von 217 Minuten und 14 Sekunden absolviert­en die Eishockey-teams Storhamar Dragons und Sparta Warriors das längste Match in der Historie des Pucksports. Wer nicht von seinem Zuschauerp­latz gekippt oder entnervt nach Hause gegangen ist, erlebte um 2.33 Uhr in der Nacht zum Montag das Siegtor zum erlösenden 2:1 – achteinhal­b Stunden nach dem Eröffnungs­bully.

Genauso lang währte beispielsw­eise auch der längste Ballwechse­l in der Tischtenni­s-geschichte. Unglaublic­he acht Stunden, 30 Minuten und sechs Sekunden spielten sich vor ein paar Jahren zwei junge Us-amerikaner die Zelluloid-kugel hin und her – eine Bestmarke, die sicher nicht nur Kraft, sondern vor allem Konzentrat­ion kostete.

Doch was tut man nicht alles für einen Eintrag ins Guinnessbu­ch der Rekorde: So lieferten sich vier Österreich­er ein exakt 26-stündiges Beachvolle­yball-duell, trotzten dabei Übelkeit und Krämpfen – und kamen insgesamt auf 100 Sätze. Wie lange sie danach keinen Sand mehr unter den Füßen spüren wollten, blieb offen.

Und wer 1:0 geführt hatte, konnte hinterher auch niemand mehr sagen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany