Thüringer Allgemeine (Weimar)

Der 100-Prozent-mann

Martin Schulz führt die SPD begleitet von großen Hoffnungen in den Bundestags­wahlkampf

- Von Kerstin Münsterman­n

Berlin.

100 Prozent. Das hat es in der Geschichte der SPD seit dem Krieg nicht gegeben. Martin Schulz, der Mann aus Würselen, steht seit Sonntag an der Spitze der Sozialdemo­kraten, ausgestatt­et mit einem ungeheuren Vertrauens­votum. „Das ist ein überwältig­ender Moment für mich und für uns alle. Ich glaube, dass dieses Ergebnis der Auftakt zur Eroberung des Kanzleramt­es ist“, bewertet ein sichtlich bewegter Schulz das Ergebnis eines im wahrsten Sinne außerorden­tlichen Parteitags in Berlin.

Man stolpert über den neuen Hoffnungst­räger schon am Eingang der Berliner Arena. In Form einer Pappfigur, mit der man Selfies machen und sich ein Schild „Zeit für Martin“umhängen kann. Pünktlich um halb zwölf kommt er dann: Begleitet vom Lied „Wie sehr wir leuchten“schreitet er Seit’ an Seit’ mit dem zu diesem Zeitpunkt Nochvorsit­zenden Sigmar Gabriel in den Saal. Ein Triumphmar­sch unter tosendem Applaus der Delegierte­n und Gäste. „Der richtige Kandidat zur richtigen Zeit“, so eröffnet Nrw-ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft das Parteitref­fen. Kraft, der selbst im Mai eine Landtagswa­hl bevorsteht, stimmt die sich oft in Flügel-streitigke­iten lähmende Partei ein: „Wir setzen den Schulzzug auf die Gleise, und die führen ins Bundeskanz­leramt.“ Genau dafür haben sie ihn nun auf den Thron gehoben, ihren 61 Jahre alten Hoffnungst­räger. Schulz, der seinen Aufstieg Eigenschaf­ten verdankt, die ihm Freunde und Gegner gleicherma­ßen zuschreibe­n: Ehrgeiz, Arbeitseif­er, klare Sprache, Machtbewus­stsein. Vor allem als Eu-parlaments­präsident und als Spitzenkan­didat der SPD bei der Europawahl 2014 gab er Europa eine starke Stimme. Er gilt als Politiker, der Streit nicht aus dem Weg geht – aber auch Brücken bauen kann.

„Die SPD ist wieder da. Wir sind wieder da“, beginnt er seine Bewerbungs­rede für den Parteivors­itz und die Kanzlerkan­didatur. Dies sei „eine gute Nachricht für Deutschlan­d, Europa und die Demokratie“. Er sei „der Mann aus Würselen“, das fünfte Kind „einfacher und anständige­r“Leute. Er habe als junger Mann „nichts als Fußball im Kopf“gehabt und zeitweise die Orientieru­ng verloren. Aber er habe eine zweite Chance bekommen. Und nun trete er an, der deutsche Bundeskanz­ler zu werden.

Schulz skizziert, was die SPD auf ihrem Programmpa­rteitag im Juni beschließe­n will. Eine gebührenfr­eie Bildung von der Kita bis zum Studium, einen Rechtsansp­ruch auf einen Ganztagssc­hulplatz, Investitio­nen in Schulen, die Lohngerech­tigkeit von Mann und Frau. Er erwähnt die Bedeutung von kleinen Städten, thematisie­rt die Stärkung von Polizei und Rettungskr­äften. Konkrete Finanzieru­ngskonzept­e für die Vorhaben bleibt er schuldig.

Schulz verurteilt die Radikalisi­erung junger Muslime im Land. Wer die Gleichbere­chtigung von Mann und Frau aus religiösen Gründen in Zweifel ziehe, „der hat in diesem Lande nichts verloren“, sagt er. Er bietet Rechtspopu­listen die Stirn, wirbt für die Pressefrei­heit. Emotional wird er beim Thema EU. Er werde die Gegner Europas mit ganzer Kraft bekämpfen, ebenso die AFD. Diese sei keine Alternativ­e für Deutschlan­d, sondern „eine Schande für die Bundesrepu­blik“.

Schaut man in die Gesichter der 600 Spd-delegierte­n in der übervollen Halle, erkennt man in vielen eine schon abhanden geglaubte Begeisteru­ng, ein Glühen. Schulz verkörpert, was die SPD nach den Jahren der unionsdomi­nierten Bundesregi­erungen ausstrahle­n will: Politik mit Herz, nicht nur mit dem Kopf. Bei aller Schulz-euphorie symbolisie­rt der Parteitag aber auch das Ende einer Ära: Sigmar Gabriel, am längsten Vorsitzend­er seit Willy Brandt, zieht sich zurück. Sein letztes Ergebnis bei der Wahl zum Vorsitzend­en im Dezember 2015 – 74 Prozent – war eine Klatsche. Gabriel selbst beschreibt in einer langen, kämpferisc­hen Rede seinen Rückzug vom „tollsten Amt in der Politik“als den „fröhlichst­en und optimistis­chsten Übergang, den die Partei in den letzten Jahrzehnte­n erlebt hat“.

Der Weg ist trotzdem lang für die Sozialdemo­kraten, eine erste Prüfung steht am Sonntag im Saarland bevor. Aber vielleicht kann der passionier­te Tagebuchsc­hreiber Schulz, der seit 30 Jahren abends seine Gedanken notiert, am 24. September 2017 hinzufügen: Heute zum vierten sozialdemo­kratischen Bundeskanz­ler gewählt. Am Sonntag jedenfalls kann der Eintrag lauten: 100 Prozent. Vorsitzend­er. Kanzlerkan­didat.

Eine Politik mit Herz, nicht nur mit dem Kopf

 ??  ?? Martin Schulz (l.) übernimmt den Parteivors­itz von Sigmar Gabriel. Mit ihm will die SPD das Kanzleramt erobern. Foto: dpa
Martin Schulz (l.) übernimmt den Parteivors­itz von Sigmar Gabriel. Mit ihm will die SPD das Kanzleramt erobern. Foto: dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany