Der 100-Prozent-mann
Martin Schulz führt die SPD begleitet von großen Hoffnungen in den Bundestagswahlkampf
Berlin.
100 Prozent. Das hat es in der Geschichte der SPD seit dem Krieg nicht gegeben. Martin Schulz, der Mann aus Würselen, steht seit Sonntag an der Spitze der Sozialdemokraten, ausgestattet mit einem ungeheuren Vertrauensvotum. „Das ist ein überwältigender Moment für mich und für uns alle. Ich glaube, dass dieses Ergebnis der Auftakt zur Eroberung des Kanzleramtes ist“, bewertet ein sichtlich bewegter Schulz das Ergebnis eines im wahrsten Sinne außerordentlichen Parteitags in Berlin.
Man stolpert über den neuen Hoffnungsträger schon am Eingang der Berliner Arena. In Form einer Pappfigur, mit der man Selfies machen und sich ein Schild „Zeit für Martin“umhängen kann. Pünktlich um halb zwölf kommt er dann: Begleitet vom Lied „Wie sehr wir leuchten“schreitet er Seit’ an Seit’ mit dem zu diesem Zeitpunkt Nochvorsitzenden Sigmar Gabriel in den Saal. Ein Triumphmarsch unter tosendem Applaus der Delegierten und Gäste. „Der richtige Kandidat zur richtigen Zeit“, so eröffnet Nrw-ministerpräsidentin Hannelore Kraft das Parteitreffen. Kraft, der selbst im Mai eine Landtagswahl bevorsteht, stimmt die sich oft in Flügel-streitigkeiten lähmende Partei ein: „Wir setzen den Schulzzug auf die Gleise, und die führen ins Bundeskanzleramt.“ Genau dafür haben sie ihn nun auf den Thron gehoben, ihren 61 Jahre alten Hoffnungsträger. Schulz, der seinen Aufstieg Eigenschaften verdankt, die ihm Freunde und Gegner gleichermaßen zuschreiben: Ehrgeiz, Arbeitseifer, klare Sprache, Machtbewusstsein. Vor allem als Eu-parlamentspräsident und als Spitzenkandidat der SPD bei der Europawahl 2014 gab er Europa eine starke Stimme. Er gilt als Politiker, der Streit nicht aus dem Weg geht – aber auch Brücken bauen kann.
„Die SPD ist wieder da. Wir sind wieder da“, beginnt er seine Bewerbungsrede für den Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur. Dies sei „eine gute Nachricht für Deutschland, Europa und die Demokratie“. Er sei „der Mann aus Würselen“, das fünfte Kind „einfacher und anständiger“Leute. Er habe als junger Mann „nichts als Fußball im Kopf“gehabt und zeitweise die Orientierung verloren. Aber er habe eine zweite Chance bekommen. Und nun trete er an, der deutsche Bundeskanzler zu werden.
Schulz skizziert, was die SPD auf ihrem Programmparteitag im Juni beschließen will. Eine gebührenfreie Bildung von der Kita bis zum Studium, einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz, Investitionen in Schulen, die Lohngerechtigkeit von Mann und Frau. Er erwähnt die Bedeutung von kleinen Städten, thematisiert die Stärkung von Polizei und Rettungskräften. Konkrete Finanzierungskonzepte für die Vorhaben bleibt er schuldig.
Schulz verurteilt die Radikalisierung junger Muslime im Land. Wer die Gleichberechtigung von Mann und Frau aus religiösen Gründen in Zweifel ziehe, „der hat in diesem Lande nichts verloren“, sagt er. Er bietet Rechtspopulisten die Stirn, wirbt für die Pressefreiheit. Emotional wird er beim Thema EU. Er werde die Gegner Europas mit ganzer Kraft bekämpfen, ebenso die AFD. Diese sei keine Alternative für Deutschland, sondern „eine Schande für die Bundesrepublik“.
Schaut man in die Gesichter der 600 Spd-delegierten in der übervollen Halle, erkennt man in vielen eine schon abhanden geglaubte Begeisterung, ein Glühen. Schulz verkörpert, was die SPD nach den Jahren der unionsdominierten Bundesregierungen ausstrahlen will: Politik mit Herz, nicht nur mit dem Kopf. Bei aller Schulz-euphorie symbolisiert der Parteitag aber auch das Ende einer Ära: Sigmar Gabriel, am längsten Vorsitzender seit Willy Brandt, zieht sich zurück. Sein letztes Ergebnis bei der Wahl zum Vorsitzenden im Dezember 2015 – 74 Prozent – war eine Klatsche. Gabriel selbst beschreibt in einer langen, kämpferischen Rede seinen Rückzug vom „tollsten Amt in der Politik“als den „fröhlichsten und optimistischsten Übergang, den die Partei in den letzten Jahrzehnten erlebt hat“.
Der Weg ist trotzdem lang für die Sozialdemokraten, eine erste Prüfung steht am Sonntag im Saarland bevor. Aber vielleicht kann der passionierte Tagebuchschreiber Schulz, der seit 30 Jahren abends seine Gedanken notiert, am 24. September 2017 hinzufügen: Heute zum vierten sozialdemokratischen Bundeskanzler gewählt. Am Sonntag jedenfalls kann der Eintrag lauten: 100 Prozent. Vorsitzender. Kanzlerkandidat.
Eine Politik mit Herz, nicht nur mit dem Kopf