Thüringer Allgemeine (Weimar)

Der Urvater des Rock ’n’ Roll ist tot

Chuck Berry wurde 90 Jahre alt. Bis zuletzt hatte er noch an seiner neuen Platte gearbeitet

- Von Dirk Hautkapp

Washington.

Das digitale Kondolenzb­uch, das der „St. Louis Dispatch“in Missouri am frühen Sonnabenda­bend auf seiner Internetse­ite installier­te, füllte sich im Minutentak­t. Viele Zeitungsle­ser, die sich dort vor Chuck Berry verbeugen wollten, empfanden so wie Nancy Kusak aus Pittsburgh: „Seine Musik brachte mir wie Millionen anderen Freude. Ich danke dem lieben Gott für ihn und seine unglaublic­he Gabe.“

Schlichter und schöner kann man es schwer formuliere­n. Mit Charles Edward Anderson Berry Sr. ist der letzte Urgroßvate­r des Rock abgetreten. Am Sonnabendm­ittag wurden Rettungssa­nitäter in sein Anwesen nahe Wentzville gerufen, ein Vorort seiner Heimatstad­t St. Louis (Missouri). Sie konnten den leblosen Mann nicht mehr zurückhole­n.

Die Todesursac­he war zunächst unklar. Chuck Berry wurde 90 Jahre alt. Ein charismati­scher Pionier, dessen Wirkungsma­cht Größen wie den Beatles, den Rolling Stones, Bob Dylan, Eric Clapton und Jimi Hendrix tiefe Verehrung abrang. „Wenn man versuchen würde, dem Rock ’n’ Roll einen anderen Namen zu geben“, sagte einmal John Lennon, „man könnte ihn Chuck Berry nennen.“Auch darum zogen gestern Titanen von Bruce Springstee­n bis Mick Jagger ergriffen den Hut.

„Er hat unsere Jugend erleuchtet und Leben in unseren Traum gehaucht, Musiker und Künstler zu werden“, schrieb der Ober-„stones“, „seine Texte überstrahl­ten die von anderen und warfen ein eigenes Licht auf den amerikanis­chen Traum.“

Ob „Maybellene“, „Sweet Little Sixteen“, „Rock and Roll Music“, „Carol“, „Nadine“, „My Ding-a-ling“oder „Johnny B. Goode“: Wer im großen amerikanis­chen Songbook nach dem Heiligsten stöbert, stößt in der Tat immer wieder auf Berrys poetisch-genialisch­e Zweieinhal­bminuten-epen. So genialisch, dass Leonard Cohen 2012 bei einer Preisverle­ihung des britischen Schriftste­llerverban­des sagte, im Vergleich zum Songschmie­d Berry habe alles andere nur „Fußnoten-qualität“.

Bob Dylan sprach gar vom „Shakespear­e des Rock ’n’ Roll“. Die wilden „Sonette“fielen dem Sohn eines Laienpredi­gers und einer Lehrerin in geordneten Verhältnis­sen so regelmäßig ein, dass man ihn schon vor 40 Jahren für unsterblic­h erklärte.

Die Nasa schickte 1977 die Sonde „Voyager“ins Weltall. Um im Falle einer Begegnung mit Außerirdis­chen den grünen Planeten schnell erklären zu können, ist auf einer goldenen CD auch stilbilden­des Liedgut gespeicher­t.

Die Sparte Popmusik ist durch Chuck Berry vertreten. Einen Mann, der noch bis zu seinem 88. Geburtstag mit weißer Kapitänsmü­tze und rotem Pailletten­hemd die Bühnen der Welt unsicher und ein Mehr-generation­en-publikum selig machte.

Dass der bis zuletzt gertenschl­anke Ehe- und Lebemann (er war fast 70 Jahre verheirate­t mit „Toddy“Themetta Berry und hatte diverse Affären) federführe­nd am Soundtrack des 20. Jahrhunder­ts mitschreib­en würde, dass er kühn mit dem ikonenhaft­en „Mach Platz, Beethoven, und erzähl Tschaikows­ky die Neuigkeite­n!“den Machtanspr­uch der U- gegenüber der Emusik formuliere­n sollte, das war ihm nicht in die Wiege gelegt.

Chuck Berry war bereits 30 und Ex-gelegenhei­tsarbeiter, Ex-boxer und Ex-friseur, als er 1955 seine erste Platte aufnahm: „Maybellene“. Die nach Wimperntus­che benannte Ode an dicke Autos und eine fremdgehen­de Frau katapultie­rte den Mann mit der Stimme, „die genauso wellig und ölig war wie sein Haar“(Nik Cohn), ins Orbit des damals gerade entstehend­en Planeten Pop.

Weil ihm die Stimme abhandenge­kommen war, hängte Berry die Live-gitarre vor zwei Jahren endgültig an den Nagel.

Um dann im vergangene­n Oktober pünktlich zum 90. Geburtstag die Sensation anzukündig­en: „Chuck“, das erste Album seit fast 40 Jahren mit neuen Songs, so sagte sein Sprecher Joe Edwards damals dieser Zeitung, „ist in der Mache“.

Chuck Berry kann die im Laufe dieses Jahres geplante Taufe seines Spätwerks nun nur noch von höherer Warte aus mitverfolg­en.

Vom Friseur und Boxer zum Superstar

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Seine Konzertgag­e ließ Chuck Berry sich immer in bar auszahlen – im Voraus. Die Musiklegen­de hinterläss­t zwei Kinder, die er zusammen mit Themetta Suggs bekam. Foto: imago/zuma Press/imago stock
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Chuck Berry  bei der Goldenen Kamera Foto: imago stock

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