Thüringer Allgemeine (Weimar)

Lebensfreu­de trotz Behinderun­g

Thüringer Paar ermöglicht Menschen mit Einschränk­ungen individuel­les Reisen

- Von Rosemarie Kaiser

Timo konnte es kaum erwarten. Jetzt sitzt er am Strand in seinem Rollstuhl, und es ist klar: Er will ins Wasser. Aber wie? In die kalte Ostsee, geschwächt wie er ist? Sein Reisebegle­iter organisier­t für den nächsten Tag einen Neoprenanz­ug und eine Luftmatrat­ze und lässt Timo vorsichtig ins Wasser gleiten. Freude pur. Juchzen. Ein Traum geht für den 47-Jährigen in Erfüllung.

Individuel­le Reisen für Menschen mit gesundheit­lichen Einschränk­ungen zu ermögliche­n, das hatten sich Dirk Reuße und Margitta Gärtner, ein engagierte­s Paar aus dem Weimarer Land, zum Ziel gesetzt. Ich treffe mich mit den beiden, um zu hören, wie sich ihr soziales Projekt „Lebensraum Mobil“seit dem Start 2013 entwickelt hat. Vor allem möchte ich mehr erfahren über Reisen am Lebensende, mit Menschen, die in Palliativb­etreuung sind oder im Hospiz leben. Die noch einmal an einen besonderen Ort wollen, zur Familienfe­ier, ans Meer, in die frühere Heimat. So wie Timo, mit seiner Fahrt an die Ostsee.

Gründliche Vorbereitu­ng ist das A und 0. Soll es eine Tagestour werden, ein Wochenendt­rip oder eine Urlaubsrei­se?

Wichtig ist, die medizinisc­he Situation mit dem Team aus Palliativm­edizinern gut abzuwägen: Ist die Reise vertretbar? Beste Voraussetz­ungen für die Fahrt bietet das speziell ausgebaute Reisemobil, der „Rote Engel“, wie die Eigentümer ihr Gefährt liebevoll nennen. Bleibt die reisefreud­ige Person im Rollstuhl, kann er oder sie umgesetzt werden auf den Beifahrers­itz, fährt ein Angehörige­r mit? Dirk Reuße ist Fahrer, Koch, Begleiter. Für ihn ist die Rundumbetr­euung selbstvers­tändlicher Teil der Dienstleis­tung.

Ja, er sieht seine Arbeit als eine dienende an, im ursprüngli­chen Sinne. Stellt sich ganz auf die Wünsche und Erforderni­sse der Reisenden ein und behält dabei dennoch auch die eigenen Grenzen im Blick.

Margitta Gärtner ist vor allem für die Organisati­on zuständig. Braucht es einen Pflegedien­st am Urlaubsort, ein Pflegebett oder sonstige Hilfsmitte­l? Alles muss klappen und im Quartier bereit stehen, wenn das Reiseziel erreicht ist. Und sie unterstütz­t bei der Finanzplan­ung: Teilweise übernehmen Krankenkas­sen die Betreuungs­leistung, die Sachkosten tragen die Reisenden, Spenden zur Aufstockun­g sind sehr willkommen.

Menschen, die im Hospiz leben oder in Palliativb­etreuung sind, wissen meist sehr genau: dies wird meine letzte Reise sein, die ich hier auf Erden antreten kann. So war es auch bei Jörg, der sich seinen Traum erfüllte: zehn Tage Gardasee. Er hat das wochenlang­e Warten bis zum Fahrtantri­tt durchgehal­ten, sammelte alle verbleiben­de Lebenskraf­t und genießt dann jede Minute der Reise. Freut sich, das Wasser zu spüren, das Dirk ihm aus dem See schöpft und über die Haut plätschern lässt. Macht sich beseelt und erfüllt auf die Heimreise; und schon auf der Rückfahrt ist zu spüren, dass die Kraft beginnt nachzulass­en. Wenige Tage später stirbt er.

Die meisten Reisenden sind jedoch Menschen, die mitten im Leben stehen. Für die engagierte­n Reiseleite­r ist es immer wieder eine große Freude zu erleben, wie viel Mut und Zielstrebi­gkeit diese Reisefreud­igen trotz ihrer Einschränk­ungen aufbringen. Sie gewinnen auf der Reise an Selbstvert­rauen und Lebensfreu­de, trauen sich auch zu Hause Neues zu und – wenn möglich – planen sie schon die nächste Fahrt.

Die Namen der Reisenden sind geändert.

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Glückliche Momente an der Ostseeermö­glichen soziale Projekte wie „Lebensraum Mobil“. Foto: Dirk Reuße
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