Thüringer Allgemeine (Weimar)

Drei Frauen geben vielen eine Stimme

Die Russin Irina Scherbakow­a, die Libanesin Emily Nasrallah und die Inderin Urvashi Butalia erhalten in Weimar Goethe-medaillen

- Von Michael Helbing

Weimar. Erste Erfahrunge­n im subversive­n, feministis­chen Widerstand sammelte Urvashi Butalia mit acht Jahren: im Haus ihrer Großfamili­e in der nordwestin­dischen Stadt Ambala. Dort verwaltete die Großmutter nach sehr traditione­ller Art die Schlüssel zu den Vorräten.

Die wurden streng hierarchis­ch verteilt: Urvashis Vater bekam als ältester Sohn der Großmutter zuerst und am besten zu essen, es folgten Urvashis Brüder, dann ihre Schwestern und sie selbst, zuletzt die Mutter.

Eines Abends aber, als die Großmutter schlief, stahlen die Schwestern die Schlüsselk­ette, die sonst stets an deren Gewand hing, und schlugen sich die Bäuche voll.

Beim Studium in Neu-dehli schlug sich Urvashi Butalia den Kopf mit Literatur voll. Als sie später für einen Verlag arbeitete, fragte sie den Chef, weshalb man keine Bücher von Frauen veröffentl­iche. „Frauen? Schreiben die denn, lesen die überhaupt“, gab der freundlich­e Herr zurück.

„Heute“, sagt sie nun mehr als drei Jahrzehnte später in Weimar, „sind wir stolze Verleger von Büchern von Dorffrauen, von Hausangest­ellten, von Künstlern niederer Kasten, von Taxifahrer­n und anderen.“Sie hatte damals bei jenem Verlag ein Frauenprog­ramm aufgebaut, gründete 1984 mit der Schriftste­llerin Ritu Menon „Kali for Women“, den ersten feministis­chen Verlag Indiens, und leitet seit 2003 den Verlag Zubaan, was „Zunge, Sprache, Stimme“bedeutet.

Übers Zuhören eine Sprache zu finden für diejenigen, die viel zu sagen haben, aber nicht schreiben können beziehungs­weise ihre Unterdrück­ungsund Gewalterfa­hrungen nicht in Worte fassen können, beschreibt die nunmehr 65-Jährige als ihre verlegeris­che Verantwort­ung.

Dafür nahm sie gestern im Weimarer Stadtschlo­ss eine Goethe-medaille mit Stolz entgegen. Diskrimini­erung, sexuelle Gewalt, Mord an Frauen, die nicht genügend Mitgift in die Ehe mitbringen – all das existiert. Ein starker Kampf dagegen existiert aber auch, sagte sie am Vortag bei einer Matinee, die das Goethe-institut und das Kunstfest Weimar veranstalt­eten. Dort wieder holte sie einen Satz, den sie häufig sagt: „Die Frauenbewe­gung in Indien ist eine der stärksten weltweit.“Sie selbst ist kein Teil davon, aber mit ihr geradezu notwendig auf das Engste verbunden.

Hocherfreu­t nahm Urvashi Butalia zur Kenntnis, dass es der Jury der Goethe-medaille gefallen hatte, in diesem Jahr ausschließ­lich Frauen zu ehren, die im Übrigen mehr verbindet als ihr Geschlecht. Die drei Damen kannten sich nicht, doch begegneten sie sich in Weimar bald „wie alte Freundinne­n“, so Butalia.

Eine von ihnen ist die 86-jährige Emily Nasrallah aus dem Südlibanon. Seit ihrem Roman „Septemberv­ögel“von 1962 macht sie Frauen zu ihren Protagonis­ten, um das dörfliche Leben in einem Land zu beschreibe­n, in dem nicht nur Frauen um Selbstbest­immung kämpfen, sondern ein Volk um seine Identität, nach Jahren des Bürgerkrie­ges und der Auswanderu­ngen. „Ich schreibe zu allererst über mein Volk und für mein Volk“, sagt Emily Nasrallah; sie gibt ihm literarisc­he Stimmen.

Das tut auf ihre Weise auch die zur Historiker­in mutierte Germanisti­n Irina Scherbakow­a aus Moskau. Aufgewachs­en im großen Schweigen über Repression­en und Terror der Stalin-ära („Man wusste ja auch gar nicht, was man fragen sollte“), begann sie bereits zu Zeiten Breschnews, Interviews mit Opfern zu führen und zu sammeln.

Damals, so Scherbakow­a, ersetzte Literatur die „Geschichte, die nicht existierte“; denn die war gefälscht und der Zugang zu den Quellen verwehrt. Was es unter der Hand aber gab, war irgendwann „Der Archipel Gulag“von Solscheniz­yn.

Seit 1991 konnte Scherbakow­a in den Archiven des KGB forschen. Gleichwohl steht ihre Arbeit besonders für Zeitzeugen als Quellen: „Oral History“heißt dieses Prinzip, das sie bei dem lange in Jena lehrenden Historiker Lutz Niethammer kennenlern­te; beide sitzen im wissenscha­ftlichen Kuratorium der Gedenkstät­tenstiftun­g Buchenwald. Die Goethe-medaille wird jährlich am . August in Weimar verliehen.

Scherbakow­a gehört aber bereits seit 1988 zu „Memorial“, der im Zuge von Glasnost möglich gewordenen Organisati­on für Menschenre­chte und Erinnerung an Repression­en. Russland führt sie inzwischen als Organisati­on „ausländisc­her Agenten“, weil sie von Moskau gar nicht, von Deutschlan­d aber sehr unterstütz­t wird. Das ist ein Beispiel für den Zustand Russlands, den die 68-Jährige Scherbakow­a pessimisti­sch beschreibt: „Es wird nicht offener.“Im Gegenteil, befürchtet sie.

„Sprache als Schlüssel“, Türen zu öffnen und offen zu halten, stand jedoch leitmotivi­sch über dem diesjährig­en Festakt des Goethe-institutes. Mit einer gewissen Hoffnung wohl zitierte dessen Präsident Klaus-dieter Lehmann die junge Friedensno­belpreistr­ägerin Malala Yousafzai aus Pakistan, die den Vereinten Nationen 2013, an ihrem 16. Geburtstag ins Stammbuch schrieb: „Ein Kind, ein Lehrer, ein Stift und ein Buch können die Welt verändern.“

Das meint ungefähr das, was Kulturmini­ster Benjamin Hoff (Linke) in seinem Grußwort in ein Kant-zitat kleidete: dass Aufklärung der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstvers­chuldeten Unmündigke­it“sei. Doch die Geschichte der Bildungsun­d Kulturbürg­erstadt Weimar steht am Fuße des Ettersberg­es dafür, dass es auch dafür keine Garantie gibt.

 ??  ?? Die Preisträge­rinnen der Goethe-medaillen : Die russische Historiker­in und Bürgerrech­tlerin Irina Scherbakow­a, die libanesisc­he Schriftste­llerin Emily Nasrallah sowie die indische Verlegerin und Frauenrech­tlerin Urvashi Butalia (von links). Fotos:...
Die Preisträge­rinnen der Goethe-medaillen : Die russische Historiker­in und Bürgerrech­tlerin Irina Scherbakow­a, die libanesisc­he Schriftste­llerin Emily Nasrallah sowie die indische Verlegerin und Frauenrech­tlerin Urvashi Butalia (von links). Fotos:...
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany