Drei Frauen geben vielen eine Stimme
Die Russin Irina Scherbakowa, die Libanesin Emily Nasrallah und die Inderin Urvashi Butalia erhalten in Weimar Goethe-medaillen
Weimar. Erste Erfahrungen im subversiven, feministischen Widerstand sammelte Urvashi Butalia mit acht Jahren: im Haus ihrer Großfamilie in der nordwestindischen Stadt Ambala. Dort verwaltete die Großmutter nach sehr traditioneller Art die Schlüssel zu den Vorräten.
Die wurden streng hierarchisch verteilt: Urvashis Vater bekam als ältester Sohn der Großmutter zuerst und am besten zu essen, es folgten Urvashis Brüder, dann ihre Schwestern und sie selbst, zuletzt die Mutter.
Eines Abends aber, als die Großmutter schlief, stahlen die Schwestern die Schlüsselkette, die sonst stets an deren Gewand hing, und schlugen sich die Bäuche voll.
Beim Studium in Neu-dehli schlug sich Urvashi Butalia den Kopf mit Literatur voll. Als sie später für einen Verlag arbeitete, fragte sie den Chef, weshalb man keine Bücher von Frauen veröffentliche. „Frauen? Schreiben die denn, lesen die überhaupt“, gab der freundliche Herr zurück.
„Heute“, sagt sie nun mehr als drei Jahrzehnte später in Weimar, „sind wir stolze Verleger von Büchern von Dorffrauen, von Hausangestellten, von Künstlern niederer Kasten, von Taxifahrern und anderen.“Sie hatte damals bei jenem Verlag ein Frauenprogramm aufgebaut, gründete 1984 mit der Schriftstellerin Ritu Menon „Kali for Women“, den ersten feministischen Verlag Indiens, und leitet seit 2003 den Verlag Zubaan, was „Zunge, Sprache, Stimme“bedeutet.
Übers Zuhören eine Sprache zu finden für diejenigen, die viel zu sagen haben, aber nicht schreiben können beziehungsweise ihre Unterdrückungsund Gewalterfahrungen nicht in Worte fassen können, beschreibt die nunmehr 65-Jährige als ihre verlegerische Verantwortung.
Dafür nahm sie gestern im Weimarer Stadtschloss eine Goethe-medaille mit Stolz entgegen. Diskriminierung, sexuelle Gewalt, Mord an Frauen, die nicht genügend Mitgift in die Ehe mitbringen – all das existiert. Ein starker Kampf dagegen existiert aber auch, sagte sie am Vortag bei einer Matinee, die das Goethe-institut und das Kunstfest Weimar veranstalteten. Dort wieder holte sie einen Satz, den sie häufig sagt: „Die Frauenbewegung in Indien ist eine der stärksten weltweit.“Sie selbst ist kein Teil davon, aber mit ihr geradezu notwendig auf das Engste verbunden.
Hocherfreut nahm Urvashi Butalia zur Kenntnis, dass es der Jury der Goethe-medaille gefallen hatte, in diesem Jahr ausschließlich Frauen zu ehren, die im Übrigen mehr verbindet als ihr Geschlecht. Die drei Damen kannten sich nicht, doch begegneten sie sich in Weimar bald „wie alte Freundinnen“, so Butalia.
Eine von ihnen ist die 86-jährige Emily Nasrallah aus dem Südlibanon. Seit ihrem Roman „Septembervögel“von 1962 macht sie Frauen zu ihren Protagonisten, um das dörfliche Leben in einem Land zu beschreiben, in dem nicht nur Frauen um Selbstbestimmung kämpfen, sondern ein Volk um seine Identität, nach Jahren des Bürgerkrieges und der Auswanderungen. „Ich schreibe zu allererst über mein Volk und für mein Volk“, sagt Emily Nasrallah; sie gibt ihm literarische Stimmen.
Das tut auf ihre Weise auch die zur Historikerin mutierte Germanistin Irina Scherbakowa aus Moskau. Aufgewachsen im großen Schweigen über Repressionen und Terror der Stalin-ära („Man wusste ja auch gar nicht, was man fragen sollte“), begann sie bereits zu Zeiten Breschnews, Interviews mit Opfern zu führen und zu sammeln.
Damals, so Scherbakowa, ersetzte Literatur die „Geschichte, die nicht existierte“; denn die war gefälscht und der Zugang zu den Quellen verwehrt. Was es unter der Hand aber gab, war irgendwann „Der Archipel Gulag“von Solschenizyn.
Seit 1991 konnte Scherbakowa in den Archiven des KGB forschen. Gleichwohl steht ihre Arbeit besonders für Zeitzeugen als Quellen: „Oral History“heißt dieses Prinzip, das sie bei dem lange in Jena lehrenden Historiker Lutz Niethammer kennenlernte; beide sitzen im wissenschaftlichen Kuratorium der Gedenkstättenstiftung Buchenwald. Die Goethe-medaille wird jährlich am . August in Weimar verliehen.
Scherbakowa gehört aber bereits seit 1988 zu „Memorial“, der im Zuge von Glasnost möglich gewordenen Organisation für Menschenrechte und Erinnerung an Repressionen. Russland führt sie inzwischen als Organisation „ausländischer Agenten“, weil sie von Moskau gar nicht, von Deutschland aber sehr unterstützt wird. Das ist ein Beispiel für den Zustand Russlands, den die 68-Jährige Scherbakowa pessimistisch beschreibt: „Es wird nicht offener.“Im Gegenteil, befürchtet sie.
„Sprache als Schlüssel“, Türen zu öffnen und offen zu halten, stand jedoch leitmotivisch über dem diesjährigen Festakt des Goethe-institutes. Mit einer gewissen Hoffnung wohl zitierte dessen Präsident Klaus-dieter Lehmann die junge Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai aus Pakistan, die den Vereinten Nationen 2013, an ihrem 16. Geburtstag ins Stammbuch schrieb: „Ein Kind, ein Lehrer, ein Stift und ein Buch können die Welt verändern.“
Das meint ungefähr das, was Kulturminister Benjamin Hoff (Linke) in seinem Grußwort in ein Kant-zitat kleidete: dass Aufklärung der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“sei. Doch die Geschichte der Bildungsund Kulturbürgerstadt Weimar steht am Fuße des Ettersberges dafür, dass es auch dafür keine Garantie gibt.