„Das sprengt jede Vorstellungskraft“
Das Ausmaß des Falls Niels H. macht Ermittler sprachlos. Der Pfleger soll weitere 84 Patienten getötet haben
Oldenburg. „Es gibt keinen vergleichbaren Fall“, sagt Oldenburgs Polizeipräsident Johann Kühme am Montag bei der Pressekonferenz. „Eigentlich ist es kein Fall. Es ist eine unfassbare Situation, eine furchtbare Mordserie. Sie sprengt jede Vorstellungskraft.“Verübt haben soll sie der Intensivkrankenpfleger Niels H. in zwei Krankenhäusern, erst in Oldenburg, dann in Delmenhorst. „Entsetzen“habe ihn bei den Ermittlungen gepackt, so Kühme, er habe seine Gefühle zurückstecken müssen zugunsten des Ermittlungsziels.
Das Ergebnis der 34-monatigen Arbeit seiner Sonderkommission „Kardio“stellte er nun in Oldenburg vor. Wegen sechs Taten ist Niels H. bereits verurteilt worden. 84 weitere Menschen soll der frühere Krankenpfleger bis 2005 umgebracht haben. Das ergab die Exhumierung von mehr als 134 Leichen, die auf Rückstände mitunter tödlicher Medikamente untersucht wurden. In 40 Fällen steht die toxikologische Untersuchung noch aus. Bisher war die Staatsanwaltschaft von 37 nachweisbar getöteten Patienten ausgegangen.
Die Dunkelziffer, so Sokoleiter Arne Schmidt, sei um ein Vielfaches höher. Denn viele Patienten seien eingeäschert worden, die Beweislage reiche hier nicht für eine Anklage aus.
Das alles macht den heute 40Jährigen wohl zum Serienmörder mit den meisten Opfern in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Niels H. sitzt bereits lebenslang in Haft. In zwei Prozessen 2008 und 2015 wurde er wegen zweifachen Mordes, dreier versuchter Morde und einer Körperverletzung verurteilt – obwohl er wesentlich mehr Morde gestanden hatte.
Der Pfleger hatte den Patienten im Krankenhaus Medikamente gespritzt, die Herz- oder Kreislaufversagen auslösten. Eine unfassbare Mordserie wird Niels H. zur Last gelegt. weitere Menschen soll er getötet haben.
Dann reanimierte Niels H. die Herzpatienten – was nicht immer gelang. Kühme: „Er wollte sich so vor Kollegen und Ärzten als besonders kompetenter Pfleger ausgeben.“
Morde hätten verhindert werden können
Die Soko „Kardio“wertete Hunderte Patientenakten aus, befragte rund 100 Zeugen. Ausschlaggebend seien aber die Exhumierungen gewesen. Die seien teilweise gegen den Willen der Hinterbliebenen erfolgt, die die Totenruhe nicht gestört sehen wollten. Niels H. habe sich bei Verhören im Gefängnis weitgehend kooperativ gezeigt. „Einige der neu zur Last gelegten Taten hat er gestanden, andere nicht.“Ob seine angegebenen
Erinnerungslücken auf seinen Alkoholmissbrauch zurückzuführen sind oder auf eine Taktik, könne man noch nicht sagen, teilt Kühme mit.
Auch bestreitet Niels H., Patienten an anderen Arbeitsstätten – als Rettungssanitäter und als Pfleger in Altenheimen – eine Überdosis Medikamente gespritzt zu haben. Diesen Verdacht legten aber Zeugenaussagen nahe. Die Patienten überlebten in diesen Fällen.
Der Fall Niels H. ist weit mehr als der eines grotesken Einzeltäters. Die Ermittlungen deckten auch den Filz sowie eine Strategie des Wegschauens und fatalen Aussitzens in den betreffenden Kliniken auf. „Viele Morde hätten verhindert werden können“, sagt Kühme. Schon am Klinikum Oldenburg habe man von den Auffälligkeiten gewusst. Die Häufung von Todesfällen in
Niels H.s Schichten hätten das Personal stutzig gemacht. Nach außen drang nichts. Stattdessen trennte sich das Klinikum von dem verdächtigen Pfleger und stellte ihm sogar ein gutes Arbeitszeugnis aus. Eine Warnung an das Klinikum Delmenhorst blieb aus. Auch dort gab es bald Gerüchte.
Später lagen auch handfeste Beweise vor: Zwei frühere Oberärzte und der Stationsleiter werden deshalb wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht stehen. Das Verfahren hinke derzeit, erklärt Martin Koziolek von der Staatsanwaltschaft. Man habe Beschwerde beim Oberlandesgericht eingelegt, weil die Anklage gegen drei weitere Verdächtige fallengelassen wurde.
Ermittlungen gegen Verantwortliche am Klinikum Oldenburg wiederum würden jetzt, mit
den neuen Erkenntnissen der Soko, wieder Fahrt aufnehmen, so Koziolek.
Niels H. jedenfalls musste erst 2005 auf frischer Tat ertappt werden, ehe die Polizei eingeschaltet wurde.