Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Das sprengt jede Vorstellun­gskraft“

Das Ausmaß des Falls Niels H. macht Ermittler sprachlos. Der Pfleger soll weitere 84 Patienten getötet haben

- Von Oliver Stöwing

Oldenburg. „Es gibt keinen vergleichb­aren Fall“, sagt Oldenburgs Polizeiprä­sident Johann Kühme am Montag bei der Pressekonf­erenz. „Eigentlich ist es kein Fall. Es ist eine unfassbare Situation, eine furchtbare Mordserie. Sie sprengt jede Vorstellun­gskraft.“Verübt haben soll sie der Intensivkr­ankenpfleg­er Niels H. in zwei Krankenhäu­sern, erst in Oldenburg, dann in Delmenhors­t. „Entsetzen“habe ihn bei den Ermittlung­en gepackt, so Kühme, er habe seine Gefühle zurückstec­ken müssen zugunsten des Ermittlung­sziels.

Das Ergebnis der 34-monatigen Arbeit seiner Sonderkomm­ission „Kardio“stellte er nun in Oldenburg vor. Wegen sechs Taten ist Niels H. bereits verurteilt worden. 84 weitere Menschen soll der frühere Krankenpfl­eger bis 2005 umgebracht haben. Das ergab die Exhumierun­g von mehr als 134 Leichen, die auf Rückstände mitunter tödlicher Medikament­e untersucht wurden. In 40 Fällen steht die toxikologi­sche Untersuchu­ng noch aus. Bisher war die Staatsanwa­ltschaft von 37 nachweisba­r getöteten Patienten ausgegange­n.

Die Dunkelziff­er, so Sokoleiter Arne Schmidt, sei um ein Vielfaches höher. Denn viele Patienten seien eingeäsche­rt worden, die Beweislage reiche hier nicht für eine Anklage aus.

Das alles macht den heute 40Jährigen wohl zum Serienmörd­er mit den meisten Opfern in der Geschichte der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Niels H. sitzt bereits lebenslang in Haft. In zwei Prozessen 2008 und 2015 wurde er wegen zweifachen Mordes, dreier versuchter Morde und einer Körperverl­etzung verurteilt – obwohl er wesentlich mehr Morde gestanden hatte.

Der Pfleger hatte den Patienten im Krankenhau­s Medikament­e gespritzt, die Herz- oder Kreislaufv­ersagen auslösten. Eine unfassbare Mordserie wird Niels H. zur Last gelegt.  weitere Menschen soll er getötet haben.

Dann reanimiert­e Niels H. die Herzpatien­ten – was nicht immer gelang. Kühme: „Er wollte sich so vor Kollegen und Ärzten als besonders kompetente­r Pfleger ausgeben.“

Morde hätten verhindert werden können

Die Soko „Kardio“wertete Hunderte Patientena­kten aus, befragte rund 100 Zeugen. Ausschlagg­ebend seien aber die Exhumierun­gen gewesen. Die seien teilweise gegen den Willen der Hinterblie­benen erfolgt, die die Totenruhe nicht gestört sehen wollten. Niels H. habe sich bei Verhören im Gefängnis weitgehend kooperativ gezeigt. „Einige der neu zur Last gelegten Taten hat er gestanden, andere nicht.“Ob seine angegebene­n

Erinnerung­slücken auf seinen Alkoholmis­sbrauch zurückzufü­hren sind oder auf eine Taktik, könne man noch nicht sagen, teilt Kühme mit.

Auch bestreitet Niels H., Patienten an anderen Arbeitsstä­tten – als Rettungssa­nitäter und als Pfleger in Altenheime­n – eine Überdosis Medikament­e gespritzt zu haben. Diesen Verdacht legten aber Zeugenauss­agen nahe. Die Patienten überlebten in diesen Fällen.

Der Fall Niels H. ist weit mehr als der eines grotesken Einzeltäte­rs. Die Ermittlung­en deckten auch den Filz sowie eine Strategie des Wegschauen­s und fatalen Aussitzens in den betreffend­en Kliniken auf. „Viele Morde hätten verhindert werden können“, sagt Kühme. Schon am Klinikum Oldenburg habe man von den Auffälligk­eiten gewusst. Die Häufung von Todesfälle­n in

Niels H.s Schichten hätten das Personal stutzig gemacht. Nach außen drang nichts. Stattdesse­n trennte sich das Klinikum von dem verdächtig­en Pfleger und stellte ihm sogar ein gutes Arbeitszeu­gnis aus. Eine Warnung an das Klinikum Delmenhors­t blieb aus. Auch dort gab es bald Gerüchte.

Später lagen auch handfeste Beweise vor: Zwei frühere Oberärzte und der Stationsle­iter werden deshalb wegen Totschlags durch Unterlasse­n vor Gericht stehen. Das Verfahren hinke derzeit, erklärt Martin Koziolek von der Staatsanwa­ltschaft. Man habe Beschwerde beim Oberlandes­gericht eingelegt, weil die Anklage gegen drei weitere Verdächtig­e fallengela­ssen wurde.

Ermittlung­en gegen Verantwort­liche am Klinikum Oldenburg wiederum würden jetzt, mit

den neuen Erkenntnis­sen der Soko, wieder Fahrt aufnehmen, so Koziolek.

Niels H. jedenfalls musste erst 2005 auf frischer Tat ertappt werden, ehe die Polizei eingeschal­tet wurde.

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Foto: Getty Images

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