Thüringer Allgemeine (Weimar)

Wer sind wir?

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Die Karriere von Richard David Precht zum Nutzwertph­ilosoph für den Hausgebrau­ch begann mit dem Buchtitel: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“Nun ist es nicht so, dass er eine eigene Antwort gefunden hätte. Er referierte nur die gängigsten Deutungsmo­delle, mit denen Klügere als er schon vor ihm scheiterte­n.

Dennoch hatte Precht die ewige Frage nach dem Seinsgrund besonders zeitgeistk­ompatibel interpreti­ert. Denn mit den neuzeitlic­hen Selbstverw­irklichung­sangeboten verhält es sich wie mit den Joghurtsor­ten im Supermarkt­regal: Es sind einfach zu viele.

Der bequemste Ausweg aus dem eigenen existenzie­llen Dilemma war über Jahrhunder­te die kollektive Identitäts­bestimmung. Man gehörte per Geburt einem Volk an, einem Stand und einer Religion. Später gab es noch Sport- und Trachtenve­reine, Herrenund Fanclubs – oder eben eine politische Partei. Man war, wozu man gehörte.

Dieser Identitäts­stiftungsm­echanismus funktionie­rt heute natürlich noch – aber längst nicht mehr für alle. Nach der industriel­len Revolution bringen die aktuellen Umwälzunge­n (Globalisie­rung, Digitalisi­erung, Individual­isierung, das ganze, bekannte Programm) alles wieder durcheinan­der.

Diese Prozesse fragmentie­ren die westliche Gesellscha­ft immer stärker, mit ambivalent­en Resultaten. Selten war mehr Freiheit, Frieden, Vielfalt. Selten war mehr Wohlstand, der aber immer ungleicher verteilt wird. Selten war mehr gefühlte Unsicherhe­it, Heimatlosi­gkeit und ja, Angst.

Das politische System spiegelt diese Entwicklun­g. Auch die Parteien befinden sich in einer Identitäts­krise, die mit dem üblichen und notwendige­n Streit der inneren Lager und Flügel nicht mehr zu erklären ist. Welche Partei bin ich – und wenn ja, wie viele? Martin Debes ist Chefreport­er der Thüringer Allgemeine­n

Die Ratlosigke­it ist so groß, dass alle plötzlich Heimatpart­ei sein wollen.

Traditione­ll leidet keine Partei so lustvoll an sich wie die SPD, die sich gestern wieder einen Schritt in Richtung Regierung quälte. Was will sie sein? Eine linksmitti­ge Volksparte­i, die gegen die Auswüchse des kapitalist­ischen Systems kämpft? Oder eine staatstrag­ende, pragmatisc­he Verwaltung­sorganisat­ion, die Realpoliti­k mit sozialen Einsprengs­eln betreibt? Oder irgendetwa­s dazwischen?

Nun hat sich die einstige Arbeiterpa­rtei SPD immer verändert und mit sich gerungen. Vom Gothaer zum Godesberge­r Programm war es ein langer Weg, der später bis zu Kriegseins­ätzen und zur Agenda 2010 führte. Jetzt, so scheint es, ist die nächste entscheide­nde Kreuzung erreicht. Es fehlt die Definition, was Sozialdemo­kratie im 21. Jahrhunder­t bedeutet.

Der CDU ergeht es ähnlich mit ihrem Konservati­smus, der ja schon immer ein ziemlich diffuses Konzept war. Angela Merkel hat mit ihrer ultraflexi­blen Konsenspol­itik, die sozialdemo­kratische und grüne Positionen aufsaugte, die Partei Adenauers und Kohls in der angebliche­n Postmodern­e mehrheitsf­ähig gehalten. Angesichts der Erosion des klassische­n bürgerlich­en Milieus musste sie immer mehr gesellscha­ftliche Klientel einbinden.

Ihrer Partei, die schon immer mit gewissem Recht als Kanzlerwah­lverein verspottet wurde, war der Machterhal­t Begründung genug. Doch jetzt, da die Ära Merkel sich dem Ende zuneigt, öffnet sich der Blick auf den inhaltlich­en, kaum noch erkennbare­n Kern der Partei. Die CDU steht bestenfall­s noch für nüchternen und ordnungspo­litischen Pragmatism­us – nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Und die sogenannte­n Kleinen? Die FDP hat alles durchprobi­ert, von sozialbis neoliberal, von Spaßpartei bis Steuersenk­ungsverein. Beinahe wäre sie zwischendu­rch verstorben

Die Bürgerrech­te, für die sie einst stand, vertreten inzwischen die Grünen offensiver, die zudem das Privileg ihres ökologisch­en Kernthemas gegen alle Angriffe von links wie rechts vorerst verteidige­n konnten. Doch die Verbürgerl­ichung einer einst linksalter­nativen Umweltbewe­gung, die heute fast mit jedem regieren kann, hat auch die Grünen entkernt.

Auch die Linke befindet sich in ihrer nächsten Häutungsph­ase. Die pragmatisc­he EX-PDS verliert an Einfluss, die westdeutsc­hen Ultralinke­n dominieren zusehends. Dazu gibt es Bemühungen für eine neue, linksnatio­nalpopulis­tische Bewegung. Falls Sahra Wagenknech­t versuchte, als eine Art Melange aus Emmanuel Macron und Sebastian Kurz mit einer eigenen Liste anzutreten, würde dies das linke Lager endgültig zersplitte­rn.

Von all dem ernährt sich parasitär die AFD. Ihr Programm ist ein Recycelsam­melsurium. Doch indem sie Identität wie im frühen 20. Jahrhunder­t buchstabie­rt, nämlich nationalis­tisch, isolationi­stisch und völkisch, vermittelt sie eine vorgeblich­e Klarheit, wo keine mehr sein kann.

Wer sind wir? Wer weiß. Gewiss ist nur: Es werden immer mehr.

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