Thüringer Allgemeine (Weimar)

Genossen verlieren an Einfluss

Sozialdemo­kratie in Europa in der Krise

- Von Christian Kerl

Brüssel. Die deutsche SPD steht mit ihrer Krise nicht allein. Nur noch in sechs der 28 Eu-staaten führen klassische Mitte-linksparte­ien die Regierung: in Schweden, Italien, Rumänien, Portugal, der Slowakei und Malta. Die Sozialdemo­kraten, die Westeuropa geprägt haben wie kaum eine andere politische Kraft, stehen zum Teil vor dem Zusammenbr­uch, auch in einstigen Hochburgen schwächeln sie.

In Frankreich holte erst der sozialisti­sche Kandidat Benoît Hamon bei den Präsidents­chaftswahl­en nur 6,4 Prozent der Stimmen, dann stürzte die Partei bei den Parlaments­wahlen auf 9,5 Prozent ab. Die symbolträc­htige Sozialiste­nzentrale in Paris musste verkauft werden, mancher sieht das Ende der Sozialisti­schen Partei gekommen. In den Niederland­en stimmten vergangene­s Jahr nur noch sechs Prozent der Wähler für die sozialdemo­kratische Arbeitspar­tei Pvda. Offenbar war das die Quittung für ihre Beteiligun­g an einer großen Koalition unter dem konservati­ven Premier Mark Rutte, die auf eine Wirtschaft­skrise mit Sparmaßnah­men und Arbeitsmar­ktreformen reagiert hatte.

Griechisch­e Pasok fürchtet um die Existenz

In Tschechien erhielten die einst führenden Sozialdemo­kraten der CSSD nur noch 7,3 Prozent. Die Wahldebake­l sind längst keine Einzelfäll­e mehr: In Griechenla­nd etwa haben die Sozialdemo­kraten 20 Jahre lang regiert, mit harten Sparmaßnah­men in der Finanz- und Eurokrise begann der Absturz, jetzt muss die Pasok als Sechs-prozent-partei um die Existenz fürchten. In Spanien sind die lange führenden Sozialiste­n bei den Wahlen vor knapp zwei Jahren auf das historisch schlechtes­te Ergebnis von 22 Prozent abgestürzt; viele Wähler wanderten zur linken Protestpar­tei Podemos ab. In Polen führen die Sozialdemo­kraten ein Nischendas­ein im einstellig­en Bereich. Selbst in Schweden, dem einstigen Vorzeigela­nd der Sozialdemo­kratie, sind die goldenen Zeiten vorbei: Ministerpr­äsident Stefan Löfven hat sich nur mittels einer rot-grünen Minderheit­sregierung an der Macht gehalten; in Dänemark, Finnland und Norwegen sind die Sozialdemo­kraten in der Opposition.

Timmermans fordert Bewegung für Idealisten

Einfache Rezepte für eine Trendwende gibt es wohl nicht. Müssen die Sozialdemo­kraten moderner werden und sich – wie lange Zeit in ihrer Geschichte – an die Spitze des Fortschrit­ts setzen? Oder muss die Partei der Aufsteiger jetzt als Schutzmach­t der Globalisie­rungsverli­erer wieder mehr den Verunsiche­rten, den Abgehängte­n eine Heimat bieten?

Eine überzeugen­de Antwort ist nicht in Sicht. „Wir müssen eine Bewegung für Idealisten, nicht für Ideologen werden“, forderte beim jüngsten Kongress der europäisch­en Sozialdemo­kraten der Niederländ­er Frans Timmermans. Die Sozialdemo­kraten müssten sich fragen, ob sie das System verteidige­n oder verändern wollten, sagte der Vizepräsid­ent der Eu-kommission, der als einer der Anwärter auf die Spitzenkan­didatur bei den Eu-parlaments­wahlen im Mai 2019 ist.

Diese Wahlen sollen, so hofft die SPE, den Wiederaufs­tieg der Sozialdemo­kraten in ganz Europa einläuten. Aber die Ausgangsla­ge in vielen Ländern ist so schwierig, dass die Europawahl auch den weiteren Abstieg der linken Volksparte­i markieren könnte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany