Thüringer Allgemeine (Weimar)

Obergrenze für den Rechtsstaa­t

400 Verhandlun­gstage, Millionen-kosten: Der Nsu-prozess macht klar, dass der Strafproze­ss reformiert werden muss

- Von Miguel Sanches

Die Angeklagte Beate Zschäpe wird im Oberlandes­gericht in München in den Gerichtssa­al gebracht – am kommenden Dienstag zum . Mal. Berlin. Im Dezember wird Manfred Götzl 65 Jahre alt. Der Nsu-prozess wird der Schlussste­in seiner Karriere. Was er als Vorsitzend­er Richter am 6. Strafsenat des Oberlandes­gerichts in München leiste, gehe an die Grenze dessen, „was ein Mensch normalerwe­ise leisten kann“, glaubt Herbert Mertin (FDP). Solche Giga-verfahren sind grenzwerti­g, der rheinlandp­fälzische Justizmini­ster und seine Länderkoll­egen wollen sie straffen. Um eine Obergrenze für die Verhandlun­gsdauer geht es nicht vorrangig – um eine zügigere Rechtsprec­hung aber schon.

Dieser Zeitung liegt eine interne Analyse des Bundesjust­izminister­iums vor, wonach eine Reform der Strafproze­ssordnung „notwendig“ist. Das betreffe ausdrückli­ch sogenannte Umfangverf­ahren, „die die Gerichte zunehmend vor zeitliche, personelle und organisato­rische Herausford­erungen stellen“. Minister Heiko Maas (SPD) redet nicht offen darüber, solange die Regierungs­bildung in Berlin andauert. Vor allem möchte er nicht als Kritiker des Nsu-prozesses dastehen. Der Rechtsstre­it in München hat viele Aspekte: die Scham über die rassistisc­hen Verbrechen, die Versäumnis­se der Sicherheit­sbehörden, die Auftritte der Hinterblie­benen der zehn Mordopfer, aber auch der (Leidens-)prozess selbst vor Gericht.

„Für ein Opfer ist es auch wichtig, dass für einen bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidu­ng da ist.“

Winfried Bausback, bayerische­r Justizmini­ster

Die „Leistungss­chau juristisch­en Durchhalte­vermögens“(Süddeutsch­e Zeitung) geht an diesem Dienstag mit dem 405. Verhandlun­gstag weiter. Am 6. Mai ist es fünf Jahre her, dass Richter Götzl das Verfahren eröffnete. Kaum ein Beobachter rechnet mit einem Urteil vor dem Jahrestag; die Termine bis Sommer stehen vorsorglic­h fest. Zum Vergleich: Die Raf-verfahren dauerten zwei Jahre.

Als Gerichtssp­recher Florian Gliwitzky zuletzt Ende Juli die Kosten veranschla­gte, kam er auf mehr als 24 Millionen Euro. Geteilt durch die damals 374 Sitzungen, waren es 64 000 Euro – pro Verhandlun­gstag. Dabei hatte er nicht einmal alle Posten addiert, es fehlten die Kosten (und Gehälter) für die fünf Richter sowie für die Staatsanwä­lte, und die eigentlich­en Verfahrens­kosten (Zeugen, Sachverstä­ndige) werden sowieso erst nach Abschluss ermittelt. Für die Anwälte (Nebenklage und Verteidigu­ng) fielen bis zum Sommer 20,256 Millionen Euro an, 2,177 Millionen Euro für die Hausverwal­tung (der Sitzungssa­al musste umgebaut werden) und für ein privates Sicherheit­sunternehm­en noch einmal 1,6 Millionen Euro.

Dass die Beweisaufn­ahme ein Geduldsspi­el sein würde, war absehbar, geht es doch um zehn Morde, zwei Bombenansc­hläge und 15 Raubüberfä­lle in einem reinen Indizienpr­ozess. Das erfordert viel Sorgfalt. Außerdem ist Götzl penibel darauf bedacht, den Prozess revisionsf­est zu machen, sodass ein Urteil nicht vom Bundesgeri­chtshof einkassier­t wird. Der bayrische Justizmini­ster Winfried Bausback (CSU) warnt davor: Es sei für ein Opfer wichtig, „dass für einen bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidu­ng da ist“.

In München hat allein die Bundesanwa­ltschaft acht Tage lang plädiert. Aktuell sind die 95 Nebenkläge­r dran, mit 60 Anwälten. Danach schlägt die Stunde der 13 Pflichtver­teidiger. Hauptangek­lagte Beate Zschäpe hat zwei Teams, ein frühes und ein spätes, die miteinande­r verkracht sind, und von dem eines schon angekündig­t hat, dass es eine Unterbrech­ung beantragen wird. Dass man wie beim Love-parade-verfahren in Düsseldorf eine ganze Messehalle zum Gerichtssa­al umfunktion­ieren muss, liegt allerdings nicht nur an den Verteidige­rn. Vielmehr hat der Bundestag im Laufe der Zeit den Opfern immer mehr Rechte zugestande­n. Damit stieg die Zahl der Nebenkläge­r, die Kosten werden vom Steuerzahl­er getragen. Wer auf der Anklageban­k sitzt, hat es nicht nur mit Richtern und Staatsanwä­lten zu tun, sondern auch mit den Nebenkläge­rn und bei spektakulä­ren Fällen mit den Medien. Ein Angeklagte­r braucht dann auch Pr-berater.

Ende 2017 forderten 80 Richter beim Strafkamme­rtag in Würzburg, die Verfahren effektiver und praxistaug­licher zu machen. Die Länder-justizmini­ster schlossen sich an. Man müsse nachdenken, „wie man das sinnvoller organisier­en kann“, meint Mertin. Ein bis zwei Jahre lang wird die Reform dauern. Für das Love-parade-verfahren oder für Richter Götzl käme sie zu spät. Wenn er ein Urteil gefällt haben wird, hat er fast die Altersruhe­grenze erreicht. Pensionsre­if ist er erst recht.

Bundestag hat Opfern mehr Rechte zugestande­n

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Foto: dpa/pa

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