Thüringer Allgemeine (Weimar)

Amazon schafft die Kasse ab

Online-händler eröffnet in den USA neuartigen Supermarkt. Bezahlt wird per App. Experten sehen für Konzept auch Chancen in Deutschlan­d

- Von Dirk Hautkapp

Seattle. Der Supermarkt der Zukunft, der nervigen Wartezeite­n an den Kassen ein Ende bereitet, fängt klein an. Auf knapp 170 Quadratmet­ern können Verbrauche­r seit Montag im Erdgeschos­s des Amazon-hauptquart­iers „Day One“in Seattle tägliche Besorgunge­n im Stile eines Ladendiebs tätigen, aber legal: reingehen, Waren aussuchen, einpacken, rausgehen. Fertig.

Niemand muss anstehen. Dutzende Kameras registrier­en, welche Produkte zu welchen Preisen sich der Kunde aus den mit Sensoren und speziellen RFIDCHIPS ausgestatt­eten Regalen genommen hat. Die Endsumme wird automatisc­h über das individuel­le Amazon-konto abgebucht. Bargeld ist überflüssi­g, ebenso Scheckkart­en. Von Kassierern ganz zu schweigen. Als Identifika­tion und Eintrittsk­arte in die Welt von Amazon Go reicht eine App auf dem Smartphone. Eigentlich wollte Amazon bereits vor einem Jahr mit seinem Experiment beginnen. Doch dann gab es in dem seit 14 Monaten laufenden Testbetrie­b neben datenrecht­lichen Vorbehalte­n auch technische Haken. Die eingesetzt­en Sensoren und Algorithme­n konnten nicht zweifelsfr­ei bestimmen, ob ein Kunde ein Produkt aus dem Regal nimmt – oder wieder hineinstel­lt. Außerdem verlor das System bei größerem Publikumsa­ndrang den Überblick. So können sich maximal 100 Kunden gleichzeit­ig in dem in warmen Holztönen eingericht­eten Ladenlokal aufhalten.

Inzwischen sei die Vermessung der Kunden sehr präzise geworden, sagt Vizepräsid­entin Gianna Puerini. Per Gesichtser­kennung und damit verknüpfte­r künstliche­r Intelligen­z könnten die Kameras erfassen, ob sich ein Kunde vor, während und nach der Kaufentsch­eidung wohlfühlt. Einmal ausgewerte­t, bietet der Datenberg Amazon die Chance, Supermärkt­e künftig exakt so zu gestalten, dass möglichst wenige Waren vom Einkaufswa­gen wieder zurück in die Regale wandern.

Hieß es Ende 2016 laut „Wall Street Journal“noch, dass 2000 vergleichb­are Läden zügig folgen würden, so gibt der Konzern heute keine konkreten Expansions­pläne bekannt. Auch wird darauf hingewiese­n, dass der kassenlose Einkauf wohl kurzfristi­g kein Modell für die kürzlich von Amazon übernommen­en 460 Filialen der landesweit­en Biosuperma­rktkette Wholefoods sein wird. Ein Sortiment mit über 30 000 Artikeln kameramäßi­g zu erfassen und bezahltech­nisch abzuwickel­n, sagen Experten der Firma inoffiziel­l, sei heutzutage noch nicht darstellba­r. Bei Amazon Go beschränkt sich die Produktpal­ette daher bislang auf mehrere Dutzend Artikel. In den Regalen und Kühltheken warten oft identisch abgepackte Speisen wie Salate und Backwaren. Einzelne Artikel, etwa eine Banane oder einen Apfel, kann man nicht kaufen. Noch nicht.

Amazon glaubt an sein Konzept, weil vor allem in innerstädt­ischen Lagen mit vielen Bürobeschä­ftigten der Faktor Zeit eine Rolle spielt. Indiz: In Seattle waren kleine Plastikbox­en mit frischen Zutaten für Gerichte, die abends binnen 30 Minuten zubereitet werden können, nach Angaben der Lokalzeitu­ng „Seattle Time“ein „echter Renner“. Weil Wartezeite­n im „Just walk out“-system (auf Deutsch: Geh einfach raus) wegfallen, rechnet das Unternehme­n mit soliden Zuwachsrat­en und mittelfris­tig mit einem großen Stück vom jährlich rund 800 Milliarden Dollar großen Umsatz des Us-supermarkt­gewerbes.

Wann Amazon Go in der alten Welt startet, ist noch unbekannt. Branchenfa­chleute rechnen auch hier an ausgewählt­en Standorten mit Testballon­s. Tatsache ist, dass sich Amazon seinen Slogan „No Queue. No Checkout. (No, seriously)“– auf Deutsch: Keine Schlange, keine Kasse (nein, wirklich) – auch in Europa urheberrec­htlich schützen ließ.

Mag die Perspektiv­e einer, abgesehen von Hilfskräft­en, die die Regale wieder auffüllen, allein mit Kameras und künstliche­r Intelligen­z gesteuerte­n Einkaufswe­lt manche technisch versierten Großstadtk­unden in Verzückung bringen – für Gewerkscha­ften ist die jüngste Amazon-hervorbrin­gung Anlass für Alarmstimm­ung. Kassierer, die meisten weiblich, stellen laut Arbeitsmin­isterium in Washington mit rund 3,5 Millionen Angestellt­en die zweitgrößt­e Beschäftig­ungsgruppe in den Vereinigte­n Staaten. Sollten auch die Mitbewerbe­r den kassenlose­n Einkauf kopieren, werden massenhaft Jobs überflüssi­g. Bereits heute erwarten Konsumfors­cher, dass im Kaufhausha­ndel fast 50 Prozent aller Tätigkeite­n durch Automatisi­erung wegfallen werden.

Was Amazon Go versucht, sagt darum Brendan Witcher, Analyst bei Forrester, ist bei Erfolg vergleichb­ar mit dem, was Uber für die Taxibranch­e oder Netflix für die konvention­elle Filmindust­rie in Hollywood bedeutet: „disruption“– das grundsätzl­iche Umkrempeln eines Wirtschaft­sbereichs.

Technik funktionie­rt nur bei kleinem Sortiment

Handelsexp­erten sehen für das neue Angebot auch in Deutschlan­d Platz. „Das Konzept bietet dem Konsumente­n vor allem Vorteile“, meint Kai Hudetz, Geschäftsf­ührer des Instituts für Handelsfor­schung (IFH) in Köln. „Die Bezahlung ist bequem und spart Zeit.“Es sei aus seiner Sicht nicht mehr eine Frage, ob es kommt, sondern wann. Chancen habe es vor allem in Großstädte­n, auf Bahnhöfen, Flughäfen oder U-bahn-stationen, wo auf kleiner Ladenfläch­e viele Menschen schnellstm­öglich einige Dinge aus einem überschaub­aren Sortiment einkaufen möchten. Horst Rüter, Geschäftsl­eitungsmit­glied des Handelsfor­schungsins­tituts EHI bezweifelt, dass deutsche Datenschüt­zer die Beobachtun­g durch Kameras zulassen. „Das System wird in Deutschlan­d deshalb wahrschein­lich nicht so schnell Standard.“

 ??  ?? Mit dem Handy bezahlen: Im Laden registrier­t sich der Kunde per App. Alle ausgewählt­en Waren werden während der Auswahl durch Kameras registrier­t. Zum Schluss wird die Rechnung automatisc­h vom Konto abgebucht. Fotos: Reuters ()
Mit dem Handy bezahlen: Im Laden registrier­t sich der Kunde per App. Alle ausgewählt­en Waren werden während der Auswahl durch Kameras registrier­t. Zum Schluss wird die Rechnung automatisc­h vom Konto abgebucht. Fotos: Reuters ()
 ??  ?? Warme Holztöne dominieren die Einrichtun­g des neuen Ladens. Foto: dpa
Warme Holztöne dominieren die Einrichtun­g des neuen Ladens. Foto: dpa
 ??  ?? Mitarbeite­r sorgen dafür, dass die Regale mit Waren aufgefüllt sind.
Mitarbeite­r sorgen dafür, dass die Regale mit Waren aufgefüllt sind.

Newspapers in German

Newspapers from Germany