Thüringer Allgemeine (Weimar)

Ein psychosoma­tischer Thriller

„Tatort“-autor Andreas Pflüger hat mit „Niemals“den zweiten Teil seiner Jenny-aaron-trilogie vorgelegt

- Von Michael Helbing

Weimar. Um zu erklären, wie dieser Roman funktionie­rt, und Andreas Pflügers Schreiben überhaupt, reichte diese Szene: Jenny Aaron läuft durch die Landschaft und orientiert sich an Bäumen. Aber: „Aaron mag keine Kiefern, darum hat sie beschlosse­n, dass es Pinien sind.“

Andreas Pflüger schreibt Thriller hart an den Fakten entlang – und lässt sie knallhart auf Fiktion prallen. Das stößt sich nicht ab, das verbindet und vereinigt sich. Poesie und Fantasie heißen die Bindemitte­l.

„Manchmal“, lesen wir im neuen Roman, „muss man seine Augen schließen, wenn man sehen will.“Jennys Vater, Chef der Spezialein­heit GSG 9, sagte ihr das, als sie noch ein Kind war – und noch nicht blind. Inzwischen weiß sie auch: „Fantasie ist der scharfe Blick der Blinden.“

So stellen wir uns vor, wie Pflüger am Schreibtis­ch sitzt, die Augen schließt, um den Blick zu schärfen, und so nicht nur seine Figuren anund durchschau­t, sondern auch Gemälde von Lucas Cranach und Hieronymus Bosch betrachtet, die es jenseits des Romans gar nicht gibt.

Da ist sie also wieder: Jenny Aaron, Polizisten­tochter und selbst Polizistin, die einzige in der „Abteilung“, einer geheimen Sondereinh­eit in Berlin, bis ihr Todfeind sie blendete.

Deutscher Krimipreis 2018 für „Niemals“

Als Verhörspez­ialistin und Fallanalyt­ikerin beim Bundeskrim­inalamt (BKA) traf sie ihn im glänzenden Roman „Endgültig“wieder; er jagte sie und sie ihn, bis er erlegt und erledigt war. Im zweiten Teil der Aaron-trilogie hat er ihr zwei Milliarden Euro hinterlass­en, die sie nun erneut zwingen, Gejagte und Jägerin zu sein.

Zwischen den beiden Büchern liegen, ihrem Erscheinen nach, eineinhalb Jahre, der Handlung nach nur eine Atempause. „Endgültig“rast durch zwei Januartage 2016, „Niemals“durch zwei darauf folgende Februarwoc­hen. Aaron also ist noch immer seit fünf Jahren blind. Sie will ihre Blindheit noch immer nicht so recht einsehen. Und: „Sie ist noch immer eine Waffe auf zwei Beinen.“

Das ist ein Zitat; M (alias Judi Dench) sagt das in „Casino Royale“ über James Bond. In jenem Film findet auch statt, was Pflüger in „Niemals“beschreibt: Ein global organisier­tes Verbrecher­syndikat verdient Geld mit „Finanzwett­en auf einen geplanten Terroransc­hlag“. Und dass in der Bond-fortsetzun­g „Ein Quantum Trost“Puccinis Oper „Tosca“ebenso eine Rolle spielt wie in „Niemals“, ist wohl auch kein Zufall.

Aaron ist die weibliche Antwort auf James Bond, speziell den Daniel Craigs. Dass der Buchtitel auf einen Bond-ausreißer antwortet, das Remake „Sag niemals nie“, liegt aber auch nahe. Niemals wird Aaron eine tiefe und tief enttäuscht­e Liebe vergessen, niemals stellte sie sich der Vergangenh­eit, niemals, glaubt und fürchtet sie, wird sie wieder sehen . .

„Aaron kann“, das hat sie gelernt, „Schmerzen aus dem Bewusstsei­n radieren. Und wieder einblenden.“Das ist der Körper. Nun jedoch muss sie noch die Lektion lernen: „Glück macht uns blind, aber Schmerz lässt uns sehen.“Das ist die Seele.

Eins bedingt das andere, insofern handelt es sich bei dem starken Roman um einen psychosoma­tischen Thriller.

Andreas Pflüger (60) stammt ursprüngli­ch aus

Bad Langensalz­a. Das ist zwar längst nicht mehr wahr. Wie sehr er gleichwohl in die Thüringer Welt eintaucht, beweisen seine Drehbücher, die er mit Murmel Clausen für Weimars „Tatort“schreibt. (Wegen „Niemals“musste Clausen die Folge „Der kalte Fritte“, die am 11. Februar läuft, allein schreiben.) Wie sehr er aber überhaupt in alle möglichen Welten eintaucht, beweisen seine Thriller. Das meint nicht nur, dass sich „Niemals“zwischen Berlin, Rom, Barcelona, Marrakesch und München bewegt. Das meint nicht nur spannungs- und temporeich­e Welten aus Liebe und Hass, aus Freundscha­ft und Verrat, aus Täuschung und Enttäuschu­ng. Das meint auch so besessene wie präzise Recherchen in den Welten des BKA, der Waffenkund­e und des Kampfsport­s, der Medizin oder eben der Blinden. Und es meint die Welten, wo Politik und organisier­tes Verbrechen eine ziemlich unheilvoll­e Symbiose eingehen. Das war schon bei Pflügers genialem, bis ins Kanzleramt reichenden Politthril­ler „Operation Rubikon“von 2004 so, der bei „Niemals“nun als Zitat mitschwing­t.

Diesen und vor allem natürlich Andreas Pflüger: Niemals. Thriller, Suhrkamp Verlag,  Seiten,  Euro. „Endgültig“bereits zu kennen, bringt Lesern zwar zusätzlich­en Gewinn, doch lässt sich „Niemals“voraussetz­ungslos als sprachmäch­tiges Buch lesen, in dem die Zeit eben noch vorbeiflog, um im nächsten Moment still zu stehen – und das soeben den Deutscher Krimipreis erhielt.

Das Spiel mit Zitaten und Bezügen muss Pflüger übrigens selbst großen Spaß machen. In „Niemals“geht es zum Beispiel einmal um eine Akte beim BKA: „Liegt unter U – wie unauffindb­ar.“Im jüngst ausgestrah­lten Weimar-„tatort“lag eine Prozessakt­e beim Landgerich­t unter A – wie „aus Versehen“falsch abgelegt.

Seit Neujahr sitzt der Schriftste­ller am finalen Band der Trilogie.

Andreas Pflüger liest aus „Niemals“heute, ab . Uhr, in Weimar, in der Thalia-buchhandlu­ng. Eintritt:  Euro.

 ??  ?? Andreas Pflüger stammt aus Bad Langensalz­a, wuchs im Saarland auf und lebt in Berlin. Er schreibt Drehbücher und Thriller.
Foto: Jens Haentzsche­l
Andreas Pflüger stammt aus Bad Langensalz­a, wuchs im Saarland auf und lebt in Berlin. Er schreibt Drehbücher und Thriller. Foto: Jens Haentzsche­l
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