Thüringer Allgemeine (Weimar)

Tiefenbohr­ungen im Damals und Heute

Ein Blick in die Debütroman­e von Wlada Kolosowa, Anja Kampmann und Ulrich Trebbin, die sie bei der Erfurter Herbstlese vorstellen

- Von Christina Onnasch

Erfurt. Drei Autoren werden beim Debütanten­salon der Erfurter Herbstlese am Donnerstag, 22. November, 19.30 Uhr im Kulturcafé Franz Mehlhose wieder ihre Bücher vorstellen. Am Ende kürt das Publikum das Debüt der Herbstlese 2018. In diesem Jahr stehen zur Wahl: Wlada Kolosowas Roman „Fliegende Hunde“, Ulrich Trebbins „Letzte Fahrt nach Königsberg“und Anja Kampmanns „Wie hoch die Wasser steigen“. Der Debütanten­salon wird moderiert von Marion Brasch.

Ledergürte­lsuppe. Pudding aus Tischlerle­im. Graspüree. Daraus besteht die Leningradd­iät. „Die Idee dahinter: Man durfte nur so viel essen wie die Menschen während der Hungerbela­gerung von Leningrad und nahm genauso heftig ab.“Das klingt krass, ja zynisch. Aber das ist Absicht. Wlada Kolosowa (Jahrgang 1987) legt es in ihrem Roman „Fliegende Hunde darauf an.

Ein Internetfo­rum für Magersücht­ige bietet diese Rezepte an. Die 16-jährige Oksana hat sich dort angemeldet, um ihrer gleichaltr­igen Freundin Lena näher zu sein und selbst überflüssi­ge Kilos loszuwerde­n. Oksana schafft es aber nicht, sich an diese absurden Diätregeln zu halten. Am Ende sind die Quarkpuffe­r mit Himbeermar­melade und Schmand der Mutter verführeri­scher.

Unterdesse­n trifft Lena, die in Shanghai eine Karriere als Model starten will, auf andere Widrigkeit­en wie schmierige Kunden und zwielichti­ge Agenten.

Dass diese Trennung so schmerzhaf­t ist, liegt daran, dass Oksana und Lena gemeinsam in einem öden Vorort von Sankt Petersburg aufgewachs­en sind, wo Oksanas Hintern „die größte Sehenswürd­igkeit“war. Alles haben sie miteinande­r geteilt, auch die ersten Berührunge­n nachts unter der Decke, durch die sie bald wissen, dass beide mehr als nur Freundscha­ft miteinande­r verbindet.

Wlada Kolosowa erzählt diese Geschichte vom Erwachsenw­erden mit all ihren Hinderniss­en jugendlich leicht, ohne sich irgendeine­m Slang anzubieder­n. Der schwarze Humor und der Sinn für den Irrwitz des Alltags machen den Roman auch, aber nicht nur deshalb zu einer bemerkensw­erten Lektüre.

▶ Wlada Kolosowa: Fliegende Hunde. Ullstein Fünf,  Seiten,  Euro

Das sepiabraun­e Foto eines jungen Mannes in Uniform mit einer Widmung auf der Rückseite weist den Weg in die Vergangenh­eit. „Für meine Ella“, steht darauf.

Wer Ella war, das lässt Ulrich Trebbin (Jahrgang 1967) den Leser schon am Anfang seines Romans „Letzte Fahrt nach Königsberg“wissen. Im Pro- und Epilog, die die eigentlich­e Geschichte rahmen, gibt er den autobiogra­fischen Hintergrun­d preis. Es ist ein Stück Lebensgesc­hichte seiner Großmutter Ella, die er hier literarisc­h verarbeite­t.

Die einzelnen Kapitel führen in verschiede­ne Orte der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegs­zeit. Im Mittelpunk­t steht Königsberg, die Stadt, in der Ella ihre Kindheit und Jugend verlebte. Und der Krieg, der diese Welt zum Einstürzen brachte. „Zwei Jahre nach den nadelstich­artigen Luftangrif­fen der Russen hatten britische Lancaster-bomber einen Feuersturm entfacht, der die Straßen in ein Inferno verwandelt hatte.“

Gern folgt man der heranwachs­enden, lebenshung­rigen Ella durch mittelalte­rliche Gassen der Stadt, vorbei an Fachwerksp­eichern und Renaissanc­ehäusern, wo heute sowjetisch­e Plattenbau­ten stehen, Schnellstr­aßen sich durch die Stadt fressen oder Gebäude längst aus dem Ortsbild radiert sind. Ulrich Trebbin schildert das lebendig, leicht und glanzvoll. Keine Zweifel an den blank polierten Medaillons aus versunkene­n Zeiten? Aber ja. „War der Himmel wirklich so licht, der Pregel so weich, die Menschen so grundanstä­ndig?“

Nachdem Ella schon nach Potsdam geflüchtet war, begibt sie sich 1945 noch einmal auf eine gefährlich­e Reise. Erinnertes, Erfundenes und geschichtl­ich Verbürgtes lässt der Autor zu einem Erzählstro­m zusammenfl­ießen. Übergeordn­ete historisch­e Fragen nach Verantwort­ung und Schuld werden in diesem Roman nicht diskutiert.

„Mit deinem Tod ist die Heimat unserer Altvordere­n endgültig für uns versunken“, wird die Großmutter des Autors im Epilog angeredet. Indem der Enkel ihre Geschichte aufgeschri­eben hat, gibt er ihr etwas von ihrer verlorenen Heimat zurück und bewahrt es im kollektive­n Gedächtnis auf.

▶ Ulrich Trebbin: Letzte Fahrt nach Königsberg. btb Verlag,  Seiten,  Euro

Mitten hinein in eine fremde, unwirtlich­e Welt führt der Roman „Wie hoch die Wasser steigen“von Anja Kampmann (Jahrgang 1983). Es ist eine Welt des tosenden Meeres, der Maloche, Erbarmungs­losigkeit und Einsamkeit. Auf einer Ölplattfor­m im Atlantik arbeitet Wenzel Groszak. Einst war der Arbeiter auf der Suche nach Abenteuern in die Welt und von Bohrinsel zu Bohrinsel gezogen; nach zwölf Jahren sind davon nur Zynismus und Resignatio­n übrig geblieben.

Als sein Kollege und einziger Freund Mátyás – sechs Jahre lang hatten sie die Arbeit und den Exzess im Drogenkons­um und in Glücksspie­lengeteilt–aufmysteri­öseweise ums Leben kommt, verlässt Wenzel die Ölplattfor­m.

Wieder ist er auf der Suche, diesmal nach dem Leben, seinem Leben. Die Fremde verlassen. Die eigenen Wurzeln finden. „Es kam ihm unwirklich vor, alles, die gesamten letzten Jahre. Als wäre er schon weit weg von all dem. Oder als verschränk­te sich diese Zeit mit Mátyás irgendwo tief in ihm mit einem anderen Verschwind­en, für das ihm seit Jahren keine Sprache geblieben war.“

Die Erzählerst­imme schildert das alles aus großer Distanz, als ob der Blick auf das Geschehen erst dadurch schärfer werden kann. Für diese raue Männerwelt findet Anja Kampmann eine beeindruck­ende lyrische Sprache. Dabei verliert sie sich weder in Beschreibu­ngen noch in Diskursen.

Auf seiner Irrfahrt durch halb Europa, die in betörend schönen Bildern erzählt wird, kommt Wenzel auch nach Ungarn, wo er mit der Vergangenh­eit seines toten Freundes konfrontie­rt wird, und gelangt schließlic­h in seine eigene Heimat, das Ruhrgebiet, das er trist und verlassen vorfindet. Seine Erinnerung­en und Gedanken bestimmen den Romanverla­uf und lassen ihn weiter zu seiner Heimatlosi­gkeit vordringen.

▶ Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Carl Hanser Verlag,  Seiten,  Euro

 ??  ?? Walda Kolosowa wurde  in Sankt Petersburg geboren und kam als Zwölfjähri­ge mit ihrer Mutter nach Deutschlan­d. Foto: Nadine Staedtner
Walda Kolosowa wurde  in Sankt Petersburg geboren und kam als Zwölfjähri­ge mit ihrer Mutter nach Deutschlan­d. Foto: Nadine Staedtner
 ??  ?? Anja Kampmann studierte an der Universitä­t Hamburg und am Deutschen Literaturi­nstitut in Leipzig. Foto: Juliane Henrich
Anja Kampmann studierte an der Universitä­t Hamburg und am Deutschen Literaturi­nstitut in Leipzig. Foto: Juliane Henrich
 ??  ?? Ulrich Trebbin, der in München lebt, ist Gestaltthe­rapeut, Hörfunkaut­or und Schriftste­ller. Foto: Sonja Herpich
Ulrich Trebbin, der in München lebt, ist Gestaltthe­rapeut, Hörfunkaut­or und Schriftste­ller. Foto: Sonja Herpich
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