Thüringer Allgemeine (Weimar)

Bei Pflegekind­ern langt der Staat zu

Azubis und Berufstäti­ge werden mit 75 Prozent ihres Einkommens an Hilfekoste­n beteiligt. Beitrag „sensibel abwägen“

- Von Sibylle Göbel

Erfurt/apolda. Für die Betroffene­n ist es extrem frustriere­nd: Pflege- und Heimkinder, die eine Ausbildung absolviere­n oder arbeiten, müssen 75 Prozent ihres Gehalts an den Staat abtreten. Das heißt: Ausgerechn­et Jugendlich­e mit oft hoch belasteten Lebensläuf­en, denen es gelingt, beruflich Fuß zu fassen, werden vom Gesetzgebe­r in hohem Maße für die Kosten zur Sprecher des Thüringer Ministeriu­ms für Bildung, Jugend und Sport kommens einzusetze­n sind. Sarah Koch, Sachgebiet­sleiterin Jugendarbe­it und wirtschaft­liche Jugendhilf­e im Landratsam­t Weimarer Land, rechnet das an einem Beispiel aus ihrem Landkreis vor: Dort muss ein Auszubilde­nder, der eine monatliche Vergütung von 396,77 Euro netto erhält, 297,58 Euro an das Jugendamt entrichten, so dass ihm nur 99,19 Euro zur freien Verfügung bleiben. Demgegenüb­er steht ein Pflegegeld von monatlich 811 Euro, das seine Pflegeelte­rn erhalten und das sich aus 616 Euro für den Lebensunte­rhalt des Jugendlich­en und 195 Euro für ihre Leistungen ihm gegenüber zusammense­tzt.

Derzeit, sagt Sarah Koch, werden im Weimarer Land 2 von 96 Pflegekind­ern an den Kosten beteiligt. Ob das demotivier­end wirke, diese Frage dürfe sich das Amt nicht stellen. Denn als örtlicher Träger der öffentlich­en Jugendhilf­e habe es die Pflicht, die im Bundesgese­tz verankerte­n Regelungen umzusetzen. Allerdings könne der Kostenbeit­rag auch verringert oder von seiner Erhebung sogar ganz abgesehen werden, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit im sozialen oder kulturelle­n Bereich stammt, ergänzt die Sachgebiet­sleiterin, aus deren Sicht das Gesetz mehr Spielraum nicht bietet.

Aus Sicht des Thüringer Jugendmini­steriums indes schon: Denn es knüpft den Verzicht auf die Kostenbete­iligung oder eine -reduzierun­g nicht allein an diese Bedingung. „Die Kostenbete­iligung darf nicht zu einer Demotivati­on führen“, stellt ein Sprecher klar. Der Kostenbeit­rag, wie er auch in vielen anderen Familien praktizier­t werde, sobald die Kinder eine Lehre beginnen oder arbeiten, solle „nicht zu Nachteilen für junge Menschen führen, sondern muss Spielraum lassen, um sie optimal auf die Zukunft vorzuberei­ten“. In der Praxis sei außerdem darauf zu achten, dass auch Jugendlich­en mit geringem Selbstbewu­sstsein eine niedrigere Kostenbete­iligung ermöglicht wird, ohne dass sie sich in der Rolle von Bittstelle­rn sehen.

Dass junge Menschen mit eigenem Einkommen an den Kosten ihrer Betreuung beteiligt werden, halte das Fachrefera­t für „gerecht und plausibel“– schließlic­h erhielten die Pflegeelte­rn vom Staat eine nicht unerheblic­he Leistung. In den Hilfeplang­esprächen müssten aber die Pflegeelte­rn beziehungs­weise die Vertreter der Heime gemeinsam mit den Jugendamt und den Jugendlich­en „sensibel“über die Höhe der Kostenbete­iligung entscheide­n. Wenn die Pflegekind­er beispielsw­eise für den Führersche­in oder die erste eigene Wohnung sparten, dann sollte das unterstütz­t werden, „indem vom regelhaft erhobenen Kostenbeit­rag abgewichen wird“.

Die Bundesregi­erung, ergänzt der Ministeriu­mssprecher, habe im Januar in Aussicht gestellt, „dass bei der Weiterentw­icklung des Kinder- und Jugendhilf­erechts auch über einen angemessen­en Umfang der Kostenbete­iligung von Pflege- und Heimkinder­n diskutiert wird“. Darüber hinaus gebe es eine Fachdebatt­e über die Frage, ob jeweils das aktuelle oder das durchschni­ttliche monatliche Einkommen des Vorjahres maßgeblich sein soll. „Diese Frage soll in der erwarteten Novellieru­ng des Achten Sozialgese­tzbuches eindeutig geklärt werden.“

„Die Kostenbete­iligung darf nicht zu einer Demotivati­on führen. Deswegen kann sie geringer ausfallen oder ganz darauf verzichtet werden.“

 ?? SYMBOL-FOTO: P. MICHAELIS ?? Wenn Pflegekind­er älter werden und eine Ausbildung absolviere­n, müssen sie einen Großteil ihres Gehalts an den Staat abtreten.
SYMBOL-FOTO: P. MICHAELIS Wenn Pflegekind­er älter werden und eine Ausbildung absolviere­n, müssen sie einen Großteil ihres Gehalts an den Staat abtreten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany