Nach dem Elitenaustausch
Am Ende des vorigen Jahrhunderts, ich war noch ein klitzekleines bisschen jünger, durfte ich in den USA studieren, dort, wo es ziemlich sumpfig und schwül ist und wo es noch ein paar Jahrzehnte zuvor getrennte Toiletten für Schwarze und Weiße gab.
Das Stipendium war damals keine große Sache, zumindest dann, wenn man von einer ostdeutschen Hochschule kam. Der Akademische Auslandsdienst besaß ganz offensichtlich eine interne Ost-quote. Wer einigermaßen vorzeigbare Noten besaß, den obligatorischen Englisch-test bestand und zwei, drei Behördengänge erledigt hatte, bekam für ein Jahr die Studiengebühren erlassen und eine monatliche Apanage, die immerhin für die Miete und die Flüge reichte.
Was mir sofort an meiner gar nicht so kleinen State University auffiel: Obwohl wir uns im tiefsten Süden der USA befanden, waren 90 Prozent der Studenten weiß und zehn Prozent farbig. Später, bei einer Wahlkampfveranstaltung, in der kleineren und preiswerteren Universität in der Stadt, wusste ich dann warum: Außer der Us-senatorin, einem gewissen Al Gore und einem Freund waren alle anderen schwarz.
Sowieso hatte ich es in meinen Vorlesungen und Seminaren nahezu ausschließlich mit weißen Professoren zu tun und in seltenen Fällen mit einer weißen Professorin. Das Personal in der Cafeteria oder in den Putzkolonnen auf dem Campus war in aller Regel farbig.
Es gab so einige deutsche Studenten, und erstaunlich viele kamen aus den beigetretenen Gebieten im Osten der Bundesrepublik. Doch auch hier gab es eine Auffälligkeit: Die angehenden BWLER, Juristen oder Politikwissenschaftler, die sich aus Jena, Halle, Leipzig oder Rostock an den Mississippi aufgemacht hatten: Sie stamm- ten zum großen Teil aus Westdeutschland.
In Gesprächen mit ihnen erfuhr ich, dass sich die meisten an ostdeutschen Universitäten einschrieben, weil dort die Zugangsbedingungen leichter waren. Einige waren auch aus Abenteuerlust in den Wilden Osten gegangen. Natürlich ergriffen sie sofort die Chance, als ihnen als Studenten an einer ostdeutschen Hochschule ein Stipendium geradezu geschenkt wurde.
Diese Erfahrung sammelte ich später immer wieder. Während Westdeutsche handelten, warteten Ostdeutsche ab. Ich selbst hatte mich in Jena erst für das Stipendium beworben, nachdem mich ein Kommilitone, der aus BadenWürttemberg kam, dazu ermuntert hatte.
Ich begann damals zum ersten Mal darüber nachzudenken, wie die DDR und die Wende die Ostdeutschen geprägt, ja geformt hatten. Viele von uns waren vorsichtiger, misstrauischer, defensiver. Die Diktatur hatte eine Art dialektische Spaltung verursacht: Wir waren staatsgläubig und staatskritisch, widerständig und autokratisch.
Im Vergleich dazu wirkten die Wessis selbstbewusster. Und sie fühlten sich stärker ermutigt, auch deshalb, weil ausgerechnet sie mit den Profes- soren, Dozenten und Wissenschaftlern besser konnten.
Denn damals, Mitte der 1990er-jahre, war die sogenannte Evaluation fast abgeschlossen. An der Universität Jena lehrten in den Geisteswissenschaften fast ausschließlich westdeutsche Professoren.
Auf der einen Seite war es nachvollziehbar, dass ein Marxismus-leninismus-dozent nicht Geschichte lehren sollte. Auf der anderen Seite wurden auch gute, kluge Akademiker entlassen, nur weil sie nicht den neuen, rein formalen Anforderungen genügten oder als irgendwie politisch kompromittiert galten.
Die Regeln dafür wurden fast ausschließlich von denen diktiert, die nicht das Ddr-system hatten kennenlernen müssen.
Die Wiedervereinigung hatte eine eigenartige, singuläre Situation geschaffen. Ein Teilstaat war nach nur 40 Jahren verschwunden, um dann na- hezu komplett die in Jahrzehnten gewachsene Ordnung des anderen Teilstaates zu übernehmen, einschließlich des Personals, das im Unterschied zu den Einheimischen diese Ordnung kannte.
Der Elitenaustausch geriet derart vollständig, dass er sich zuweilen tatsächlich so anfühlte, was er im Kern definitiv nicht war: Eine Eroberung, eine Kolonisation. Im Übrigen waren viele der Ostdeutschen, die sich mutig, mobil und selbstbewusst genug fühlten, längst in den Westen gegangen.
Wenn wir 30 Jahre danach unter anderem darüber reden, warum es in Ostdeutschland keinen Hochschulrektor oder -präsidenten gibt, der aus Ostdeutschland stammt, dann sind die Erklärungen vielfältig. Es geht, wie in der Geschlechterdebatte, um strukturelle Benachteiligungen – aber eben auch um Prägungen und Verhaltensmuster. Und es geht darum, sich endlich davon zu emanzipieren.