„Es würde mich überraschen, wenn keine Deutschen dabei wären“
Der renommierte Anti-doping-kämpfer Henner Misersky zum Erfurter Skandal und ein den Betrug begünstigendes Thüringer Binnenklima
Erfurt. Der Thüringer Henner Misersky ist noch immer einer der Unerschrockensten seiner Art: ein kompromissloser AntiDoping-kämpfer, dessen Stimme in ganz Deutschland wahrgenommen wird. Zuletzt gehörte er mit dem Molekularbiologen Werner Franke, der ehemaligen Leichtathletin Claudia Lepping und Gerhard Treutlein, dem Leiter des Zentrums für Dopingpräventation in Heidelberg, zu den Unterzeichnern eines viel beachteten Briefes an den Bundestags-sportausschuss. Darin fordern die vier ein modifiziertes Dopingopferhilfegesetz und ein strengeres Prüfverfahren, um Missbrauch zu verhindern. Wir sprachen mit ihm über den aktuellen Dopingskandal.
Herr Misersky, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von den Doping-razzien in Seefeld und Erfurt gehört haben?
Das waren ambivalente Gefühle, ich war sehr gespalten. Einmal, weil es aktuell den von mir so geliebten Skilanglauf betrifft, obwohl mir schon bewusst ist, dass diese Ausdauersportart besonders dopingbelastet ist. Aber es hat auch mit dem Weltverband Fis zu tun, der nicht so konsequent reagierte, wie der Radsport das tat mit der Obergrenze für Hämatokrit und einer Blutwerte-datenbank.
Was hat der Ski-weltverband versäumt?
Die Fis hat seit Olympia 2002 im Laufe der Jahre lediglich die ehemals gigantischen Obergrenzen im Hämoglobin runtergedimmt. Auch damals bei den Spielen in Salt Lake City waren ja vor Ort schon Blutbeutel und Spritzen im Restmüll des österreichischen Privatquartiers in Stadionnähe gefunden worden. Erstaunt bin ich im aktuellen Fall darüber, dass die Justiz ohne Rücksicht auf ein sportliches Großereignis, medaillenzählende Politiker und Großsponsoren konsequent zur Tat geschritten ist und konzertiert länderübergreifend zugepackt hat.
Zufall, dass aktuell die Fäden in Erfurt zusammenlaufen? Spätestens als die Blutbestrahlung von Dr. Franke am Olympiastützpunkt bei Kadersportlern zwischen 2007 und 2011 zu Konsequenzen führte, musste man sensibilisiert sein. War man aber offensichtlich nicht. Das dopingbegünstigende Binnenklima ist vorhanden, also alles auszureizen, was nicht nachweisbar ist. Medikamentierungen werden bis zur „Hubraumbegrenzung“ausgeschöpft, Asthmasprays wie Salbutamol und Spirophent ohne medizinische Indikation angeblich aus prophylaktischen Gründen propagiert. Doch auch diese rezeptpflichtigen Medikamente haben Nebenwirkungen wie Herzrhythmusstörungen oder Osteoporosegefahr. Und ich beurteile es als sehr kritisch, wenn ein Erfurter Olympiasieger wie Nils Schumann als Sportstudio-betreiber, Veranstalter von Laufevents und ehemaliger Vizepräsident des Thüringer Leichtathletikverbandes ungeniert und ungebremst die Freigabe von Doping propagiert.
Schumann prangert aber auch die ungleichen, oft fehlenden Kontrollen in anderen Ländern an, das Katz- und MausSpiel der Betrüger und die Gefahr, des Dopings bezichtigt zu werden, auch für die, die gar nicht dopen – weil die Liste der verbotenen Substanzen immer länger wird . . .
Ich würde das gesamte Anti-doping-kontrollsystem in die Mülltonne treten – das hat er gesagt. Folgt man diesem den Sport zerstörenden Duktus, könnte der verhaftete Sportmediziner in Erfurt ungebremst weiter agieren. Für mich wäre das der Todesstoß für den organisierten Wettkampfsport und ein totaler Bankrott für die Ethik im Sport. Henner Misersky, einst Ddr-vizemeister im 3000Meter-hindernislauf, später Jugendtrainer beim SC Motor Zella-mehlis und Lehrer an der TH Ilmenau. Eine wissenschaftliche Laufbahn wurde ihm wegen „politischer Unzuverlässigkeit“verwehrt. Nach seiner Weigerung, Ski-langläuferinnen (darunter Tochter Antje) Dopingmittel zu geben, wurde er 1985 fristlos als Trainer entlassen. 1992 warf er dem Deutschen Skiverband vor, dopingbelastete Trainer übernommen zu haben und trat später in Prozessen gegen Dopingtäter als Zeuge auf. Für seine Haltung wurde er 2009 mit der Heidi-krieger-medaille ausgezeichnet, 2010 erhielt er die Ehrennadel des Thüringer Skiverbandes. Seit 2012 gehört Misersky zur Hall of Fame des deutschen Sports. Der Deutsche Skiverband und Alfons Hörmann als Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes haben umgehend darauf verwiesen, dass keine deutschen Sportler in den Fall involviert sind, der Landessportbund will schnell eine lückenlose Aufklärung betreiben. Klingt das zu einfach?
Das Funktionärsgeplapper von angeblich null Toleranz oder brutalst möglicher Aufklärung, dazu zu wenig substanzielle Dopingprävention in Thüringen, nimmt doch lächerliche Züge an. Das wahre Credo heißt: Medaillen über alles.
Unter den in den Fokus geratenen Sportlern ist dennoch bislang kein Deutscher. Glauben Sie, es wäre denkbar, dass es in Erfurt eine Doping-zentrale gab, die tatsächlich allein von ausländischen Athleten genutzt wurde?
Es würde mich überraschen, wenn keine Deutschen dabei wären. Auch wenn die Legende gepflegt wird, alle dopen, nur wir nicht. Dopende deutsche Radsportler wurden doch in Größenordnungen erwischt. Sportmediziner der Elite-uni Freiburg waren darin verwickelt. Auch ein in Thüringen praktizierender Arzt gehört zu dieser feinen Gesellschaft. Gegen ihn hatte aber nicht die Thüringer Justiz ermittelt, sondern das Land Niedersachsen, weil dort sein Wohnsitz lag. Er war ein Intimus des spanischen Dopingarztes Fuentes.
Es gibt Stimmen, die es in Deutschland für schlicht unmöglich halten, systematisch zu dopen, weil das System zu engmaschig sei.
Die Dopinganalytik ist doch gar nicht in der Lage, Re-infusionen und Eigenblutdoping nachzuweisen. Kontrolldichte mit PipiKontrollen hin und her, aus meiner Sicht ist das Verschwendung von Steuergeldern als Alibi. Deswegen wird ja diese kriminelle Methode des Blutdopings von diesen geldgierigen Frankensteins praktiziert.
Also ist das Kontrollsystem doch für die Katz?
Auf alle Fälle ist es ein Geschäft für diejenigen, die mit den Kontrollen befasst sind. Ich halte das Ganze für grundgesetzwidrig, weil sich die Sportler einem Diktat seitens des DOSB unterwerfen müssen, sie eine Athletenvereinbarung unterschreiben müssen, die ihre bürgerlichen Grundrechte beschneidet und mit nichts zu rechtfertigenden Einschnitten in ihre Privatsphäre verbunden ist, zumal datenschutzrechtliche Bestimmungen an anderen Stellen ins Absurde gesteigert wurden. Dazu Meldepflicht, ständige Erreichbarkeit, Verletzung der Intimsphäre. Andererseits ist es vorgekommen, dass angeblich kontrolliert und abgerechnet wurde, man die Gläser aber selbst zu Hause abgefüllt hat. Wer kontrolliert die Kontrolleure? Kurz: Es gäbe intelligentere Lösungen, Sportbetrug zu bekämpfen.
Wie könnte das Ihrer Meinung nach aussehen?
Gezielte Kontrollen, wenn in Trainingsphasen oder der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung, auch am Wettkampfort selbst, damit zu rechnen ist, dass nachgeladen wird. Ausreißer, die trainingsmethodisch nicht erklärbar sind, gezielt unter die Lupe nehmen. Wunderheilungen nach vermeintlichen krankheitsbedingten Ausfällen beobachten und gezielt kontrollieren. Transparenz schaffen, indem Blutwerte und Leistungskenndaten abrufbar offen gelegt werden. Einsicht in die Trainingsplanung und Realisierung eingeschlossen. Dazu: Haaranalysen. Kronzeugenregelungen. Whistleblower lukrativ honorieren. Das ist kostengünstiger als das Gießkannen-prinzip bei Kontrollen. Und: Gnadenlos an die Ärzteschaft rangehen, das gesamte medizinische Personal unter die Lupe nehmen. Da der Hämatokritwert leicht zu manipulieren ist, Zentrifugen zur Obergrenzenermittlung und Hubraumbeschränkung verbieten, ebenso Infusionstechnik. Sollte es zu Notfällen vor Ort kommen, ist ein unabhängiger Arzt in der Lage, zu reagieren. Einen leistungsbeschleunigen- den Mannschaftsmediziner mit diesem Equipment braucht es nicht! Mein Fazit: Die Willensbildung fehlt.
Was ist das Perfide und Gefährliche am Blutdoping?
Ein zu hoher Hämatokritwert birgt stets Gefahren der Thrombose in sich, zumal bei hohen Flüssigkeitsverlusten. Sogar von Familienangehörigen mit gleicher Blutgruppe und Rh-faktor wurden Blutkonserven gezogen und zusätzlich zuvor mit Epo aufgepeppt. Das nachweisbare rekombinante Epo ist nach einiger Zeit verstoffwechselt. Auffällig sind dann trainingsmethodisch nicht erklärbare Leistungssprünge, sprich Laufleistungen, bei an sich austrainierten Sportlern. Genauso wenig nachweisbar wie Re-infusionen mit Blutbeuteln sind bei leerem Tank zwischen Wettkämpfen Glukose-infusionen, sprich „Muskelbenzin“, wenn Sportler an den Tropf gehängt werden.
Wer sind denn nun die Kriminellen – die Sportler oder die Ärzte?
Es ist eine Betrugsgemeinschaft, auch wenn die kriminelle Energie bei Arzt und Sportler nicht unbedingt aus gleichen Motiven gespeist wird. Ich frage mich seit langem, warum betreuende Mediziner bei Großveranstaltungen nicht ihr Equipment mit Zentrifugen, Medikamentenlisten, Infusionstechnik offenlegen müssen. Glauben Sie, dass der Fall über den Wintersport hinausreicht und auch Athleten anderer Sportarten betrifft? Zweifelsfrei. Allein schon, weil der österreichische Radprofi Stefan Denifl inzwischen geständig war. In der Haut der Kundschaft, die Konserven in Erfurt hinterlassen hat, möchte ich nicht stecken. Ich staune, dass bereits ohne Genabgleiche der Blutkonserven und vollständiger Sichtung der Patientenakten, Auswertungen der Telefonate und Festplatten, sich einige aus dem Fenster lehnen und ins Blaue hinein Aussagen machen: wir sind nicht dabei.
Wir haben seit 2015 ein AntiDoping-gesetz, das schreckt offenbar keinen ab. Warum? Weil bislang in Deutschland kein am Dopingbetrug beteiligter Mediziner seine Approbation verloren hat und keiner ins Gefängnis musste. Nur mit diesen Konsequenzen würde die Hemmschwelle höher gelegt und die Szene kalte Füße bekommen. Gegen dieses Gesetz hatten sich der Deutsche Olympische Sportbund und IOC-PRÄsident Thomas Bach anfänglich gesträubt, auch aus Thüringen vernahm man ablehnende Stimmen. Man wolle nicht, so hieß es, dass Sportler „kriminalisiert werden“, der Sport könne angeblich schneller reagieren als die Justiz Zudem konnten sich beteiligte Mediziner hinter der ärztlichen Schweigeplicht verstecken. Der Sportler beruft sich auf den Arzt, dieser blockt ab.
Was meinen Sie – wird es zu grundlegenden Enthüllungen kommen? Oder glauben Sie wie Professor Werner Franke, dass durch Schweigen wieder nichts an Licht kommt?
Dass in den Hinterzimmern von Sport und Politik momentan schadensbegrenzende Szenarien durchgespielt werden, um einen Super-gau für Spitzensport-deutschland zu vermeiden, das kann ich mir schon vorstellen. Unter diesem gewaltigen Druck stehen alle: die deutschen Hauptsponsoren, das den Spitzensport mit Steuergeldern finanzierende Innenministerium, auch die Nationale AntidopingAgentur Nada, die ich nebenbei für einen ziemlich zahnlosen Tiger halte. Blutdoping hatten sie dort angeblich nicht auf dem Radar. Wie aufgeregt einige Landespolitiker eingedenk des gewaltigen Imageschadens für Thüringen, der sich auszuweiten droht, Statements abgegeben haben, passt dazu . . .
Franke sagt, er habe es mehrfach erlebt, dass alle dichthalten und die meisten ungeschoren davonkommen.
Wenn eine unangefochtene Kapazität wie der hochdekorierte Molekularbiologe Werner Franke, der nahezu im Alleingang mit seiner Frau Brigitte Berendonk den deutschen Dopingsumpf in Ost und West zu großen Teilen trockengelegt hat, sich keinen Illusionen hingibt, spricht das für sich. Ich sehe keinen Grund, seine Prognose in Frage zu stellen. Dass es einige personelle Konsequenzen geben wird, wie auch immer sie aussehen mögen, steht außer Frage. Im Übrigen würde es die Lebensqualität der Deutschen nicht im Geringsten beeinflussen, gäbe es diese Art von Spritzen-spitzensport nicht mehr.
30 Jahre nach der Wende und dem Ende des Kampfs der Systeme scheint der Sport noch immer im festen Griff des Betruges. Verwundert Sie das? Überhaupt nicht. Denn das ist nicht etwa systembedingt. Es ist gleichgelagert wie damals, nur mit einigen anderen soziologischen Nuancen. Denn auch in der DDR haben zumindest die volljährigen Sportler gewusst, dass sie sich bewusst in ein Betrugssystem integrieren. Was die materielle Seite zum Heute anbelangt, allerdings auf bescheidenem Niveau.