Die Medizin tickt männlich
Herzinfarkte werden bei Frauen häufiger zu spät erkannt: Warum eine Emanzipation im Gesundheitswesen nötig ist
Erfurt. Die Frau war 43 Jahre alt, Raucherin, litt an Diabetes und hatte gerade einen neuen Job angetreten. Als sie wegen Schmerzen zwischen den Schulterblättern, Übelkeit und Schweißausbrüchen bei ihrem Hausarzt vorsprach, verschrieb er Schmerztabletten und Physiotherapie. Erst Tage später, als sich die Beschwerden verschlimmerten und der Sohn den Notarzt rief, wurde auf dem EKG ein überstandener Herzinfarkt festgestellt. Die folgende schwere Herzschwäche überlebte die Frau nicht lange.
Dieses Beispiel beschrieb die Erfurter Kardiologin Anja Schade als typisch für eine Schieflage. Herzinfarkte werden bei Frauen nicht selten zu spät erkannt, weil ihre Anzeichen häufig anders sind, als die typischen „männlichen“Symptome.
Und der Herzinfarkt wiederum ist symptomatisch für die gesamte Medizin: Sie tickt noch immer männlich. In der Forschung, in geltenden medizinischen Leitlinien und in der Medikation müssen Frauen besser berücksichtigt werden. Anderenfalls werden sie nicht richtig behandelt. – So lässt sich der Kern eines Gesprächs zusammenfassen, zu dem gestern im Vorgriff auf den Frauentag Landesfrauenrat und die Barmer einluden.
Dass Herzerkrankungen wie der Infarkt, Herzschwäche und koronare Herzkrankheit durchaus nicht nur eine männliche Angelegenheit sind, zeigt auch der Blick in die Statistik. 2016 starben in Thüringen rund 4150 Frauen und etwa 3300 Männer an den Folgen einer Herzerkran- Katrin Christ-eisenwinder, Gleichstellungsbeauftragte
kung, sie standen an der Spitze der Todesursachen.
Allerdings gibt es nicht nur Unterschiede in der Symptomatik eines Herzinfarktes. Frauen, so Medizinerin Anja Schade, können auf einschlägige Thera- pien bei Herzerkrankungen anders reagieren. Risikofaktoren wie Diabetes oder Rauchen wirken sich verhängnisvoller und schneller aus. Frauen sterben
häufiger als Männer an Herzschwäche, Erkrankungen der Herzklappen und Herzrhythmusstörungen, mehr Frauen überleben nicht das erste Jahr nach einem Herzinfarkt. Und Frauen erkranken im Durch- schnitt zehn Jahre später, wenn nach den Wechseljahren die Produktion des schützenden Östrogens nachlässt.
Infolge dieser zeitlichen Verschiebung sind Frauen in wissenschaftlichen Studien unterrepräsentiert. Dringend nötig sei daher öffentlich geförderte Forschung, die speziell die Frauen in den Blick nimmt. Dazu gehören auch Zusammenhänge zwischen Erkrankung und sozialen wie biografischen Faktoren, wie die Berliner Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil bemerkte. Auch die Präventionsarbeit muss spezifischer auf Frauen ausgerichtet werden, forderten die Akteurinnen und sprachen von einer Optimierung der medizinischen Versorgung im Sinne der Frauengesundheit.
„Forschung in der Medizin und Behandlung von Krankheiten sind an männlichen Mustern ausgerichtet.“