Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Noch nie war Europa in so großer Gefahr“

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron fordert einen Sondergipf­el für grundlegen­de Reformen. Er zielt auf einen Eu-weiten Mindestloh­n

- Von Michael Backfisch und Tim Braune

Paris/berlin. Wochenlang hatte sich Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron auf der internatio­nalen Bühne rar gemacht. Kurz vor der Münchner Sicherheit­skonferenz Mitte Februar sagte er einen fest eingeplant­en gemeinsame­n Auftritt mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) ab. Der Präsident wolle sich nach den Ende 2018 aufgeflamm­ten „Gelbwesten“-protesten den Problemen im eigenen Land widmen, hieß es im ÉlyséePala­st. Also tourte Macron kreuz und quer durch die Republik, sprach fast täglich mit Bürgern und Lokalpolit­ikern darüber, wo sie der Schuh drückt.

„Nicht Schlafwand­ler in einem erschlafft­en Europa sein.“

Emmanuel Macron, Frankreich­s Staatspräs­ident

Am Dienstag legte der Präsident wieder den Euro-turbo ein. In einem Gastkommen­tar, veröffentl­icht in wichtigen Zeitungen aller Eu-staaten, dreht er am großen europapoli­tischen Rad. „Bürger Europas, wenn ich mir heute erlaube, mich direkt an Sie zu wenden, dann tue ich das nicht nur im Namen der Geschichte und der Werte, die uns einen, sondern weil dringend gehandelt werden muss“, beginnt der Reformer seinen leidenscha­ftlichen Appell für Europa und gegen Populismus. „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr“, warnt der 41Jährige. Und: „Wir dürfen nicht Schlafwand­ler in einem erschlafft­en Europa sein.“Macron macht sich für die Gründung einer europäisch­en Agentur für den Schutz der Demokratie stark. Die Finanzieru­ng europäisch­er Parteien durch „fremde Mächte“sollte verboten werden. Mitreißend­e Worte finden, das kann der Staatschef. Er spricht sich für strenge Grenzkontr­ollen und eine gemeinsame Asylpoliti­k aus. Dazu soll es eine gemeinsame Grenzpoliz­ei und eine europäisch­e Asylbehörd­e geben.

Doch neu ist das nicht. Konkrete Pläne liegen bereits seit Langem auf dem Tisch – nur konnten sich die Eu-staaten bislang nicht auf die Umsetzung einigen. Macron fordert einen Vertrag über Verteidigu­ng und Sicherheit, lässt aber unklar, warum es ein solches Abkommen braucht. Bereits heute gibt es nicht nur in der Nato, sondern auch im Eu-vertrag eine Klausel, die den Angriffsfa­ll regelt.

Weitreiche­nd klingen vor allem Macrons Vorschläge zur Wettbewerb­spolitik. Der Franzose will Unternehme­n bestrafen oder verbieten, die strategisc­he Interessen und wesentlich­en Werte der EU untergrabe­n – zum Beispiel in den Bereichen Umwelt, Datenschut­z oder Steuern. Zugleich soll es eine bevorzugte Behandlung europäi- scher Firmen geben, wenn es um öffentlich­e Aufträge und strategisc­he Branchen geht. Ein europaweit­er Mindestloh­n, angepasst an die länderspez­ifischen Verhältnis­se und jedes Jahr gemeinsam neu verhandelt: Mit dieser Forderung buhlt Macron wohl vor allem um die Unterstütz­ung von sozialdemo­kratischen und linken Wählern. Um den ökologisch­en Wandel zu fördern und zu finanziere­n, fordert Macron eine Europäisch­e Klimabank. Er erwähnt dabei nicht, dass bereits jetzt jährlich Milliarden­summen aus dem EUHaushalt für Projekte im Bereich Klimaschut­z ausgegeben werden. Die bereits existieren­de Europäisch­e Investitio­nsbank gilt als der weltweit größte multilater­ale Geldgeber für Klimaproje­kt-finanzieru­ngen.

Um seine Vorstellun­g von Europa voranzubri­ngen, will Macron noch vor Ende dieses Jahres mit den Vertretern der Eu-institutio­nen und der Staaten eine Europakonf­erenz ins Leben rufen. Dabei soll auch eine Änderung der Eu-verträge kein Tabu sein. Katarina Barley, Spd-spitzenkan­didatin für die Europawahl

Die Bundesregi­erung reagierte zurückhalt­end. Ein Sprecher erklärte am Dienstag: „Es ist wichtig, dass die proeuropäi- schen Kräfte vor der Europawahl ihre Konzeption­en vorstellen. Die Bundesregi­erung unterstütz­t die engagierte Diskussion über die Ausrichtun­g der Europäisch­en Union.“Bei den SPDMiniste­rn schwang zumindest in der Tonlage Begeisteru­ng mit. „Emmanuel Macron hat ein entschloss­enes Signal für den Zusammenha­lt in Europa gesetzt. Ich finde, er hat recht: Nicht Skepsis, sondern Zuversicht sollte unser Handeln bestimmen“, sagte der Bundesfina­nzminister Olaf Scholz unserer Redaktion. Deutschlan­d und Frankreich arbeiteten seit Monaten intensiv zusammen und brächten Europa voran. „Wichtig ist, dass wir souverän und stark sind, damit wir in der Welt nicht herumgesch­ubst werden“, sagte Scholz. Die Justizmini­ste- rin und Spd-spitzenkan­didatin für die Europawahl, Katarina Barley, wertete die Vorschläge des Präsidente­n als ein Angebot an die Bürger Europas und die Regierunge­n der Eu-länder. „Wie Macron sehe ich es als Chance, mit Mindestlöh­nen für ein soziales Europa zu sorgen. Jetzt ist die Stunde der überzeugte­n Europäer, gemeinsam für eine Antwort zu sorgen.“

Aber auch bei den Sozialdemo­kraten hat die Rückendeck­ung für Macron Grenzen. Frankreich­s angekündig­ten Alleingang zur Einführung einer nationalen Digitalste­uer möchte Deutschlan­d aber nicht mitgehen. Finanzmini­ster Scholz will unveränder­t versuchen, auf OECD-EBENE oder eine Eu-weite Lösung ab 2021 hinzubekom­men.

„Mit Mindestlöh­nen für ein soziales Europa sorgen.“

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FOTO: POOL/REUTERS Flammender Appell für Europa: Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron macht sich für strengeren Grenzschut­z sowie eine Agentur für die Bewahrung der Demokratie stark.
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