„Noch nie war Europa in so großer Gefahr“
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert einen Sondergipfel für grundlegende Reformen. Er zielt auf einen Eu-weiten Mindestlohn
Paris/berlin. Wochenlang hatte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf der internationalen Bühne rar gemacht. Kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar sagte er einen fest eingeplanten gemeinsamen Auftritt mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ab. Der Präsident wolle sich nach den Ende 2018 aufgeflammten „Gelbwesten“-protesten den Problemen im eigenen Land widmen, hieß es im ÉlyséePalast. Also tourte Macron kreuz und quer durch die Republik, sprach fast täglich mit Bürgern und Lokalpolitikern darüber, wo sie der Schuh drückt.
„Nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein.“
Emmanuel Macron, Frankreichs Staatspräsident
Am Dienstag legte der Präsident wieder den Euro-turbo ein. In einem Gastkommentar, veröffentlicht in wichtigen Zeitungen aller Eu-staaten, dreht er am großen europapolitischen Rad. „Bürger Europas, wenn ich mir heute erlaube, mich direkt an Sie zu wenden, dann tue ich das nicht nur im Namen der Geschichte und der Werte, die uns einen, sondern weil dringend gehandelt werden muss“, beginnt der Reformer seinen leidenschaftlichen Appell für Europa und gegen Populismus. „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr“, warnt der 41Jährige. Und: „Wir dürfen nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein.“Macron macht sich für die Gründung einer europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie stark. Die Finanzierung europäischer Parteien durch „fremde Mächte“sollte verboten werden. Mitreißende Worte finden, das kann der Staatschef. Er spricht sich für strenge Grenzkontrollen und eine gemeinsame Asylpolitik aus. Dazu soll es eine gemeinsame Grenzpolizei und eine europäische Asylbehörde geben.
Doch neu ist das nicht. Konkrete Pläne liegen bereits seit Langem auf dem Tisch – nur konnten sich die Eu-staaten bislang nicht auf die Umsetzung einigen. Macron fordert einen Vertrag über Verteidigung und Sicherheit, lässt aber unklar, warum es ein solches Abkommen braucht. Bereits heute gibt es nicht nur in der Nato, sondern auch im Eu-vertrag eine Klausel, die den Angriffsfall regelt.
Weitreichend klingen vor allem Macrons Vorschläge zur Wettbewerbspolitik. Der Franzose will Unternehmen bestrafen oder verbieten, die strategische Interessen und wesentlichen Werte der EU untergraben – zum Beispiel in den Bereichen Umwelt, Datenschutz oder Steuern. Zugleich soll es eine bevorzugte Behandlung europäi- scher Firmen geben, wenn es um öffentliche Aufträge und strategische Branchen geht. Ein europaweiter Mindestlohn, angepasst an die länderspezifischen Verhältnisse und jedes Jahr gemeinsam neu verhandelt: Mit dieser Forderung buhlt Macron wohl vor allem um die Unterstützung von sozialdemokratischen und linken Wählern. Um den ökologischen Wandel zu fördern und zu finanzieren, fordert Macron eine Europäische Klimabank. Er erwähnt dabei nicht, dass bereits jetzt jährlich Milliardensummen aus dem EUHaushalt für Projekte im Bereich Klimaschutz ausgegeben werden. Die bereits existierende Europäische Investitionsbank gilt als der weltweit größte multilaterale Geldgeber für Klimaprojekt-finanzierungen.
Um seine Vorstellung von Europa voranzubringen, will Macron noch vor Ende dieses Jahres mit den Vertretern der Eu-institutionen und der Staaten eine Europakonferenz ins Leben rufen. Dabei soll auch eine Änderung der Eu-verträge kein Tabu sein. Katarina Barley, Spd-spitzenkandidatin für die Europawahl
Die Bundesregierung reagierte zurückhaltend. Ein Sprecher erklärte am Dienstag: „Es ist wichtig, dass die proeuropäi- schen Kräfte vor der Europawahl ihre Konzeptionen vorstellen. Die Bundesregierung unterstützt die engagierte Diskussion über die Ausrichtung der Europäischen Union.“Bei den SPDMinistern schwang zumindest in der Tonlage Begeisterung mit. „Emmanuel Macron hat ein entschlossenes Signal für den Zusammenhalt in Europa gesetzt. Ich finde, er hat recht: Nicht Skepsis, sondern Zuversicht sollte unser Handeln bestimmen“, sagte der Bundesfinanzminister Olaf Scholz unserer Redaktion. Deutschland und Frankreich arbeiteten seit Monaten intensiv zusammen und brächten Europa voran. „Wichtig ist, dass wir souverän und stark sind, damit wir in der Welt nicht herumgeschubst werden“, sagte Scholz. Die Justizministe- rin und Spd-spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, wertete die Vorschläge des Präsidenten als ein Angebot an die Bürger Europas und die Regierungen der Eu-länder. „Wie Macron sehe ich es als Chance, mit Mindestlöhnen für ein soziales Europa zu sorgen. Jetzt ist die Stunde der überzeugten Europäer, gemeinsam für eine Antwort zu sorgen.“
Aber auch bei den Sozialdemokraten hat die Rückendeckung für Macron Grenzen. Frankreichs angekündigten Alleingang zur Einführung einer nationalen Digitalsteuer möchte Deutschland aber nicht mitgehen. Finanzminister Scholz will unverändert versuchen, auf OECD-EBENE oder eine Eu-weite Lösung ab 2021 hinzubekommen.
„Mit Mindestlöhnen für ein soziales Europa sorgen.“