Die Leerstelle des „Generals“
Das Deutsche Nationaltheater hat noch keinen Karabits-nachfolger, aber ein Programm für die Saison 2019/20
Weimar. Mit dem gigantischen Opernprojekt „Lancelot“von Paul Dessau, der uraufzuführenden ersten Sinfonie des Ehrendirigenten George Alexander Albrecht (84) und dem Motto „Blühende Landschaften“im Schauspiel startet das Deutsche Nationaltheater (DNT) Weimar diesen Herbst in die neue Spielzeit – die letzte vor einer längeren Umbaupause im großen Haus. Zugleich wird es eine Saison ohne Generalmusikdirektor (GMD) sein, was Intendant Hasko Weber jedoch bei der gestrigen Programmvorstellung mit keiner Silbe erwähnte. Geschäftsführerin Sabine Rühl bilanzierte mit 215.000 Besuchern eine erfolgreiche Saison 2017/18.
Allerdings hat sie das Publikum bei auswärtigen Gastspielen mitgezählt, darunter die große Usa-tournee der Staatskapelle. In Weimar hatte das DNT laut Rühls Angaben 177.000 Besucher. Das dürfte im landesweiten Vergleich für den zweiten oder dritten Platz in der Statistik ausreichen. Für das Geschäftsjahr 2018 zeichne sich ein positiver Abschluss der Bilanz ab, so Rühl. Im Herbst nächsten Jahres zieht das DNT in die Redoute als Ausweichspielstätte um, während laut Weber das DNT für brutto fünf Millionen Euro umgebaut werde. Es gelte, die Akustikverhältnisse, den Komfort und die Barrierefreiheit zu verbessern. Das Platzangebot wird von 854 auf 750 reduziert.
90.000 Euro extra bekommen das DNT und das Theater Erfurt aus dem Kooperationsfonds des Landes für ihr Gemeinschaftsprojekt „Lancelot“. Außerdem steuern beide Häuser ihre jeweils üblichen Produktionsetats bei, so dass etwa das Vierfache an Kosten – für je fünf Aufführungen in Weimar und Erfurt – kalkuliert ist. Die Oper aus dem Spätwerk Paul Dessaus verzeichnet 32 Solopartien und erfordert einen großen Chor und Kinderchor sowie zahlreiche Aushilfen im Orchester, unter anderem für einen kompletten Satz Saxofone, großes Schlagwerk und vier Tasteninstrumente. Nach der Ostberliner Uraufführung 1969 ist dieses Werk lediglich in München sowie in einer reduzierten Fassung in Dresden gespielt worden.
Operndirektor Hans Georg Wegner will mit dem von Peter Konwitschny inszenierten Stück „überregional Aufmerksamkeit erzeugen“. Zwist gab es im Vorfeld um die musi- kalische Leitung. Intendant Weber behauptete gestern, der nunmehr scheidende GMD Kirill Karabits habe zunächst per Handschlag zugesagt und dann Abstand genommen. Nach Karabits‘ Darstellung habe er durchaus gern zur Verfügung gestanden, wäre jedoch während der ersten, musikfreien Probenwoche durch vier Gastdirigate beim Chicago Symphony Orchestra verhindert gewesen; zudem habe er sich nicht nötigen lassen wollen, den Erfurter Zyklus ebenfalls zu dirigieren. Nun übernimmt der 28-jährige Kapellmeister Dominik Beykirch diese Aufgabe. Erfurts erfahrener GMD Myron Michailidis wurde nicht gefragt.
Das übrige Musiktheaterprogramm 2019/20 teilen die Kapellmeister Beykirch und Stefan Lano unter sich auf: „Hoffmanns Erzählungen“in der Regie von Christian Weise, Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“und Bernsteins „West Side Story“. Monteverdis „Ulisse“im E-werk übernimmt der Alte-musik-spezialist Gerd Amelung, die Kinderoper „Königin der Farben“der Komponist André Kassel. Für Konzerte kommen Gäste wie Iris Vermillion, Johanni van Oostrum, Baiba Skride, Fabrice Bollon, Avi Avatal sowie Michael Sanderling, Bertrand de Billy und zum Schluss noch einmal Kirill Karabits – mit Liszts Cantate zur Beethoven-feier – nach Weimar. Die Uraufführung der „Sinfonia di due mondi“von George Alexander Albrecht dirigiert dessen Sohn Marc, zurzeit Chef der Oper in Amsterdam.
Das Schauspiel sieht nächste Saison neben Klassikern wie Goethes „Urfaust“, Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“und Shakespeares „Romeo und Julia“sowie „Wie es euch gefällt“– als Sommertheater auf dem Gelände am E-werk – einige Projekte vor, die den friedlichen Systemsturz 1989 in der DDR reflektieren sollen. Im Zentrum dieses „Blühende Landschaften“titulierten Komplexes steht Hasko Weber – als bekennender Ohrenzeuge der berühmten Dresdner Rede Helmut Kohls – mit seiner Regie von „Brüder und Schwestern“nach dem Roman von Birk Meinhardt. Ein Projekt von Ulrike Günther und Isabel Tetzner „Oldtimer – als der Mauerfall, mein Ford Fiesta und ich 30 wurden“befasst sich ebenso mit der Zeitspanne und den sozialen Veränderungen inzwischen.
In Koproduktion mit dem TAK Theater Liechtenstein wird das Thema „Identität Europa“mit acht Monologen verschiedener Autoren bewegt. Neben einigen weiteren, kleineren Vorhaben steht als Familienstück „A Christmas Carol“von Charles Dickens bevor.
Im Tanztheater setzt Weber die Kooperation mit den Kollegen aus Eisenach in „Die 10 Gebote“und mit Esther Ambrosinos Erfurter Truppe in „Face me – Sacre“fort. Das Kunstfest als vierte Dnt-sparte steuert unter anderem ein Reichstag-reenactment am 21./22. August auf dem Theaterplatz bei und startet im Verein mit Novoflot aus Berlin den augenzwinkernd frechen Versuch, in einer zeitgenössischen MonteverdiTrilogie die Oper neu zu erfinden. – Über all dieser Fülle vergisst man beinahe, dass die eminente Position des „Generals“bei der Staatskapelle dann für zwei Jahre eine Leerstelle bleibt.