DDR-GRUß aus der Kellerkiste
Günter Kunert beschenkt sich zum 90. selbst – mit einem vier Jahrzehnte alten Roman, der noch ziemlich frisch ist
Kaisborstel/erfurt. Am schönsten sind oft Geschenke, mit denen man sich selbst überrascht. Das mag auch im Falle des Dichters Günter Kunert so sein, der sich zu seinem heutigen 90. Geburtstag mit einem Roman beschenkt. Das Manuskript ist mehr als vier Jahrzehnte alt und galt als verschollen. „Die zweite Frau“verfasste Kunert 1974, doch das Manuskript hatte damals, in der DDR, keine Chance, gedruckt zu werden.
Schon am Anfang träumt sich der Protagonist mit Walter Ulbricht in einen britischen Luftschutzbunker und verweigert dem Staatsoberhaupt den Handschlag. In die Beziehungsgeschichte vom Archäologen Barthold und seiner Frau, die sich um Versorgungsmängel, Reisebeschränkungen und öffentliches Misstrauen dreht, drängt sich am Ende die Stasi. Doch Barthold hat eine Strategie entwickelt, sich staatlichen Zumutungen listig zu entziehen.
„Die zweite Frau“ist Kunerts zweiter Roman. Der erste, „Im Namen der Hüte“, erschien 1967 und glänzte bereits mit all dem, was auch seine Gedichte, Erzählungen und Miniaturen auszeichnet: Scharfsinn, Lakonie, Ironie, Witz und schwarzer Humor. Ebenso der frisch gebliebene Text. Kunert schlug sich seinerzeit mit der sozialistischen Bürokratie herum, verhöhnte den dogmatischen Fortschrittsglauben und geißelte die eine oder andere Form von Geschichtsklitterung. Immerhin gehörte er mit Volker Braun, Wolf Biermann, Sarah Kirsch, Bernd Jentzsch und Karl Mickel zu den jungen „Wilden“, denen Stephan Hermlin 1960 in der Akademie der Künste eine Öffent- lichkeit verschaffte, was die legendäre „Lyrik-welle“zur Folge hatte.
Günter Kunert nutzte jede sich bietende Gelegenheit, seinen Horizont zu erweitern, nahm Einladungen zu Gastvorlesungen in Großbritannien und in den USA an und dankte es mit literarischen Reiseskizzen – sein Amerika-report „Der andere Planet“(1975) und sein „Englisches Tagebuch“(1978) fanden in beiden Teilen Deutschlands begeisterte Leser.
Der heitere Melancholiker Kunert ist in fast allen literarischen Genres zu Hause, er malt zudem und wird nicht müde, seine mahnende Stimme zu erheben. Nur konnte er, der die Biermann-petition unterzeichnete, die staatliche Bevormundung bald nicht mehr ertragen und zog mit Frau und vielen Katzen in den Westen.
Aber war „Die zweite Frau“wirklich verschollen? Vor drei Jahren, be- hauptet der Autor, sei er in den Keller gegangen, um Texte für das Marbacher Literaturarchiv herauszusuchen. Dabei habe er das Manuskript in einer Truhe gefunden. Falls das ein Trick sein sollte, wäre es ein sympathischer. Zum 90. war nämlich ein anderes Buch angekündigt: „Kunerts allerbeste Jahre“– ein Gespräch mit dem Dichterkollegen Jan Kuhlbrodt über seine Reisen, die echten und die im Kopf. Doch dazu kam es nicht. Krankheit kam dazwischen. Aber auch der alternative Kellerfund ist ja nicht schlecht. Typisch Kunert.