Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Da herrschte organisier­te Gewalt“

Sexueller Missbrauch wurde laut einer Studie in der DDR lange vertuscht

-

Berlin. Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlich­en ist in der ehemaligen DDR ein noch größeres Tabu gewesen als in der alten Bundesrepu­blik – das berichtet eine Fallstudie zu sexuellem Kindesmiss­brauch in Institutio­nen und Familien in der DDR. Am Mittwoch ist die Untersuchu­ng von der unabhängig­en Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs vorgestell­t worden. Mädchen erlitten demnach Missbrauch häufiger in der eigenen Familie, Jungen eher in „Spezialhei­men“wie den Jugendwerk­höfen. Dokumentie­rt seien auch Fälle, in denen Kinder für sexuelle Dienstleis­tungen organisier­t verkauft wurden, berichtet Cornelia Wustmann, Professori­n für soziale Bezie- hungen an der Universitä­t Dresden. Die Studie basiert auf Erinnerung­en von rund 100 Männern und Frauen.

Zwar habe es, so die Autoren, auch in der alten Bundesrepu­blik Kindesmiss­brauch gegeben. In der DDR seien jedoch Besonderhe­iten hinzugekom­men: Zum einen sei diese Form der Gewalt in keiner Statistik aufgetauch­t. Zum anderen sei sie durch den ideologisc­h begründete­n Erziehungs­auftrag insbesonde­re in Spezialhei­men begünstigt worden. „In einer Gesellscha­ft, die eigentlich ihrer Bevölkerun­g bis ins Bett folgt – wie fällt so was nicht auf?“, so Wustmann. Sexuelle Gewalt habe nicht in das Bild der „heilen sozialisti­schen Gesellscha­ft“gepasst. Und nicht nur das: In den Ddr-heimen sei „übergriffi­ges Verhalten legitimier­t“worden, sagt Autorin Beate Mitzscherl­ich von der Hochschule Zwickau. Man sei der Auffassung gewesen, schlimme Kinder müssten umerzogen werden.

„Da herrschte organisier­te Gewalt“, berichtet Corinna Thalheim, die als Jugendlich­e selbst mehrere Monate in den Ddr-spezialhei­men Wittenberg und dem besonders berüchtigt­en Standort Torgau verbrachte. Der offizielle Vorwurf gegen sie sei „mehrere Tage Schulbumme­lei“gewesen. Laut Ddr-gesetz sollten in den Heimen Kinder „mit dem Ziel der Heranbildu­ng vollwertig­er Mitglieder der sozialisti­schen Gesellscha­ft und bewusster Bürger“umerzogen werden.

Die Betroffene­n litten bis heute unter den Folgen des Missbrauch­s, so die Autoren. Bislang seien sie als Opfer nicht anerkannt und hätten damit keinen Anspruch auf Entschädig­ung. Sie fordern einen Fonds beim Familienmi­nisterium, der das Leid bestätigt und für Therapien aufkommt. (vem)

 ?? FOTO: SEAN GALLUP ?? Corinna Thalheim musste ihre Kindheit in Ddr-spezialhei­men verbringen.
FOTO: SEAN GALLUP Corinna Thalheim musste ihre Kindheit in Ddr-spezialhei­men verbringen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany