Thüringer Allgemeine (Weimar)

Doppelt gestraft

Ein Ddr-heimkind verklagt das Jobcenter wegen der Anrechnung seiner Entschädig­ung – und wartet jahrelang auf den Prozess

- Von Hanno Müller

Nordhausen. Der Mann sitzt in der kleinen Wohnung im niedersäch­sischen Bad Sachsa. Im Korb spielen zwei kleine Yorkshire-hunde. Er hat für sich und den Besucher Kaffee gekocht. Die Wohnung wirkt aufgeräumt, normal. Im Leben des Bewohners aber ist nichts normal.

Er lebe nicht freiwillig in Bad Sachsa, sagt der 56-Jährige. Eigentlich stamme er aus Nordhausen in Thüringen. Von dort sei er vor vier Jahren geflohen. Die Arbeitsage­ntur habe ihm die Lebensgrun­dlage entzogen. Und nicht nur das.

Der Mann ist ein ehemaliges Ddr-heimkind. Nach der Scheidung der Eltern heiratete die Mutter wieder. Der Neue war gewalttäti­g. Der Junge störte, kam ins Heim. Vom fünften Lebensjahr an bis zur Volljährig­keit durchlebte er die schändlich­sten Seiten der Ddr-jugendhilf­e. In der Schule lief es nicht gut, er galt als schwer erziehbar, sei oft abgehauen und schließlic­h im Jugendstra­fvollzug Torgau gelandet. Prügel, Zwangsarbe­it, er habe alles durch.

Hilfsgeld darf nicht angerechne­t werden

Besser wurde es auch danach nicht. Er blieb eine verlorene Seele, die nirgendwo Halt fand. Für ein geregeltes Leben fehlte die Kraft. Er habe getrunken und sei mit dem Gesetz in Konflikt geraten, gesteht er. Diebstahl, Einbruch, Fahren ohne Führersche­in – genug, um wiederholt hinter Gittern zu enden. Bis 1989. Seitdem sei er nicht mehr kriminell gewesen, versichert er.

Die Wende sei eine Chance gewesen, mit der Vergangenh­eit klarzukomm­en. Für den rechtsstaa­tswidrigen Freiheitse­ntzug in Torgau wurde er nach dem Sed-unrechtsbe­reinigungs­gesetz und nach dem Strafrecht­lichen Rehabiliti­erungsgese­tz entschädig­t. Schließlic­h kam noch eine fünfstelli­ge Summe an Unterstütz­ungsleistu­ngen aus dem Heimkinder­fonds hinzu. Das Geld habe er auf der Bank sicher angelegt und nicht angerührt, versichert der Mann.

Bis zum Streit mit der Nordhäuser Arbeitsage­ntur. Aus der Perspektiv­e des Bad Sachsaers stellt es sich so dar: Das Amt habe ihm über Monate Hartz IVLeistung­en vorenthalt­en und dies mit Geld auf seinem Konto begründet. Am Ende sei alles weg gewesen, was er sich nach der Wende aufgebaut habe – Geld, Auto, Wohnung. Er sei völlig abgestürzt, habe gesoffen, auf der Straße im Dreck gelebt, seine Gesundheit ruiniert. Zum Beleg zeigt er Fotos von seien entzündete­n Beinen. Noch jetzt quälen sie ihn beim Laufen.

War es so, wie es der Mann darstellt und handelte es sich bei den Guthaben auch um Hilfsgeld, verstieß das Amt womöglich gegen geltendes Recht. Der Heimkinder­fonds soll Betroffene­n, bei denen Folgeschäd­en und ein besonderer Hilfebedar­f durch diese Schädigung­en bestehen, ergänzende Leistungen bereitstel­len. Das Geld ist weder pfändbar noch darf es auf Sozialleis­tungen angerechne­t werden. Allerdings schweigt das Nordhäuser Jobcenter zu den Vorwürfen. Auf Nachfrage beruft man sich auf die Schweigepf­licht.

Die Rolle des Arbeitsamt­es soll jetzt das Sozialgeri­cht Hildesheim klären. Dafür müsste aber die dort seit 2016 anhängige Klage mit dem Aktenzeich­nen AZ S37/AS1075/16 gegen gut 50 Bescheide des Jobcenters endlich verhandelt werden. Eingereich­t hat sie der Mann mithilfe eines Nordhäuser Rechtsanwa­ltes. Aus dessen Büro heißt es dazu, eine abschließe­nde Stellungna­hme könne nicht abgegeben werden, da vom Gericht nach wie vor keine Entscheidu­ng vorliegt. Eine Anfrage beim Sozialgeri­cht in Hildesheim bleibt unbeantwor­tet.

Der Mann kann das schwer nachvollzi­ehen. Wenn er redet, wechseln trotzige Bestimmthe­it und Hilflosigk­eit einander ab. Er fühle sich sicher im Recht. Auch wenn die Details der – wie er sagt – schwersten Zeit seit den Heimen im Kopf verschwimm­en. Da sei auch noch eine Freundin gewesen, die ihn hintergang­en habe. Dass er wieder auf die Beine kam, verdanke er staatlich zugeteilte­n Betreuern. Die Wohnung habe er mit Mobiliar vom Sperrmüll eingericht­et.

Er verlange nur, was ihm zusteht, sagt er. Warum tut sich nichts? Das Warten und die Ungewisshe­it machten ihn rasend. Er verlasse die Wohnung nur noch selten, trinke wieder viel. Die Hunde verhindern das Schlimmste. So einer wie er habe keine Lobby. Nach der DDR fühle er sich nun erneut gestraft.

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FOTO: HANNO MÜLLER Ein ehemaliges Ddr-heimkind wirft der Arbeitsage­ntur Nordhausen vor, sie habe ihn durch Hartz-iv-sanktionsm­aßnahmen um seine Entschädig­ung für die Leiden der Vergangenh­eit gebracht.

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