Diagnose: Stress im Job
Seit 2007 hat sich die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme verdoppelt
Berlin. Arbeit kann krank machen – wenn der Druck zu groß ist, das Tempo zu hoch und keine Zeit mehr für Erholung bleibt. Doch auch das Gegenteil gibt es: Wer sein Geld mit eintöniger Arbeit verdienen muss, kann gesundheitlich genauso in die Knie gehen wie sein dauergestresster Nachbar.
Wie stark sich die Arbeitswelt in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren verändert hat und welche Folgen das für die Gesundheit der Beschäftigten hat – das zeigen neue Zahlen aus einer Antwort des Arbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linke-fraktion im Bundestag, die unserer Redaktion exklusiv vorliegt. Die Regierungsantwort zu arbeitsbezogenen psychischen Belastungen zeichnet das alarmierende Bild einer gestressten Nation.
Krankmeldung wegen psychischer Probleme – wie oft kommt das vor?
Zwischen 2007 und 2017 (die aktuellsten Zahlen stammen aus 2017) hat sich die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme mehr als verdoppelt: Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage stieg in diesem Zeitraum von rund 48 Millionen auf 107 Millionen. Zwar gab es zwischen 2016 und 2017 einen leichten Rückgang bei den AUTagen, doch der Anteil der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme an der Gesamtzahl der Krankschreibungen blieb in beiden Jahren mit rund 16 Prozent nahezu stabil. Männer kamen dabei auf eine deutlich höhere Zahl an psychisch bedingten Krankheitstagen als Frauen, ältere Beschäftigte meldeten sich häufiger krank als jüngere.
Nicht nur die Krankheitstage, auch die wachsende Zahl der Fälle, in denen Beschäftigte aus Gesundheitsgründen früher als geplant in Rente gehen, zeichnen ein besorgniserregendes Bild: Bei den Renteneintritten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aufgrund psychischer Störungen stiegen die Zahlen von rund 54.000 (2007) auf mehr als 71.000 (2017). Anders als bei den Au-tagen: Frauen sind hier deutlich öfter betroffen als Männer. 2017 gingen rund 41.000 Frauen vorzeitig wegen psychischer Diagnosen in Rente – bei den Männern waren es nur rund 30.000. Wie groß ist der wirtschaftliche Schaden?
Neben den unmittelbaren Kosten für die Kranken- und Rentenkassen sind auch die wirtschaftlichen Folgekosten von Arbeitsausfällen wegen psychi- scher Probleme deutlich gewachsen: Zwischen 2007 und 2017 haben sich diese Kosten laut Regierungsantwort nahezu verdreifacht. Fiel 2007 die Summe aus dem Produktionsausfall und dem Ausfall der Bruttowertschöpfung in diesem Bereich mit 12,4 Milliarden Euro noch vergleichsweise gering aus, so waren es 2017 bereits Ausfallkosten von 33,9 Milliarden Euro.
Welche Branchen sind besonders betroffen?
Um diese Frage zu beantworten, hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im vergangenen Jahr eine Erwerbstätigenbefragung durchgeführt – aufgeteilt nach 17 Wirtschaftszweigen. Das Fazit des Arbeitsministeriums: „Im Branchenvergleich lassen sich insbesondere zwei Wirtschaftszweige identifizieren, die überdurchschnittlich häufig von psychischen Anforderungen bei der Arbeit betroffen sind.“Es sind die Erwerbstätigen im Gesund- heits- und Sozialwesen und diejenigen im Gastgewerbe. Pfleger, Erzieher und Sozialarbeiter leiden demnach vor allem unter folgenden Stressfaktoren: „Verschiedene Arbeiten gleichzeitig betreuen“, „Bei der Arbeit gestört und unterbrochen werden“, „Starker Termin- und Leistungsdruck“, aber auch „Ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge“. Bei Beschäftigten im Gastgewerbe kommt zu diesen Belastungen auch noch der Faktor „Sehr schnell arbeiten“hinzu.
Welche Ursachen sieht die Regierung?
Die exakten Ursachen für die Entwicklung der arbeitsbezogenen Anforderungen seien nur schwer zu belegen, heißt es in der Regierungsantwort. Eine wichtige Rolle spielten aber die großen Trends der letzten Jahrzehnte: die Transformation von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft, die Durchdringung der Arbeitswelt mit modernen Kommunika- tionstechnologien sowie die Beschleunigung sämtlicher Arbeitsprozesse bei steigender Komplexität der Aufgaben.
Was kann die Politik tun?
Die Bundesregierung sieht primär die Arbeitgeber in der Pflicht: Gegen psychische Belastungen würden keine neuen Arbeitsschutzregeln helfen, zumal unklar sei, wie in diesem Bereich Grenzwerte festgelegt werden sollten, heißt es in der Regierungsantwort. Jutta Krellmann ist das deutlich zu wenig. Die arbeitspolitische Sprecherin der Fraktion der Linken wirft der Regierung „vorsätzliches Staatsversagen“vor: „Viele Arbeitgeber fahren auf Verschleiß: starker Druck, hohe Flexibilität – immer schneller, immer mehr. Beschäftigte werden über ihre Belastungsgrenze getrieben“, sagte Krellmann unserer Redaktion. Die Linke fordert eine staatliche Anti-stress-verordnung und flächendeckende Arbeitsschutzkontrollen.