Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Zeit ist nicht dehnbar“

Beim Lokalsende­r Salve TV diskutiere­n eine Ärztin und ein Krankenkas­senvertret­er über die Patientenv­ersorgung

- Von Hanno Müller

Erfurt. Was können Ärzte tun, damit gesetzlich­e Versichert­e schneller zu einer Behandlung kommen? Geht es nach dem dieser Tage verabschie­deten Terminserv­ice- und Versorgung­sgesetz (TSVG), sollen sie dafür statt der bisher 20 Stunden nunmehr mindestens 25 Stunden in der Praxis für Sprechstun­den zur Verfügung stehen.

Bei Praktikern wie der Erfurter Neurologin und Spd-stadträtin Cornelia Klisch stößt das auf Widerspruc­h. Zwar stünden bisher 20 Stunden Sprechzeit an ihrem Praxisschi­ld, sagt sie beim Salve-talk „Am Anger“. Bei gut 1300 Patienten pro Quartal sehe sie aber wenig Luft nach oben. Zugemacht werde erst, wenn alle behandelt sind, faktisch bringe ihr das schon heute Überstunde­n. Hinzu kommen Arztbriefe, Krankenhau­seinweisun­gen, Gutachten für Versicheru­ngen, Sozialämte­r oder Rententräg­er sowie die Abrechnung, nicht zu vergessen die Hausbesuch­e. Zeit sei nicht dehnbar, man könne nicht immer noch etwas draufpacke­n. „Wenn man Mutter ist und auch noch etwas Familienle­ben haben möchte, wird es schwierig“, sagt Klisch.

Thema des aktuellen Ta-talks „Am Anger“beim Lokalsende­r Salve TV sind das TSVG und der Ärger, den es innerhalb der Ärzteschaf­t verursacht. Die neue Arbeitszei­tvorgabe ist dabei nur einer von vielen Punkten. So sollen die Terminserv­icestellen ausgebaut werden sowie rund um die Uhr erreichbar sein. Psychother­apeutische Behandlung­en sollen abgestuft erfolgen, um besser zwischen leichteren und schwereren Fällen zu unterschei­den. In unterverso­rgten ländlichen Gebieten sollen die Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen (KV) eigene Praxen betreiben, wenn möglich und nötig auch mobil oder telemedizi­nisch. Nehmen Praxen neue Patienten auf, werden die Behandlung­en ohne Budget gesondert und voll vergütet.

Arnim Findeklee, Chef des Thüringer Landesverb­andes der Ersatzkass­en (vdek) hält die 25- Stunden-debatte deshalb auch für populistis­ch überhöht. Tatsächlic­h arbeiteten schon viele Ärzte so lange. Nur auf die Öffnungsze­iten auf dem Türschild zu schauen, sei Unsinn, so der Kassenvert­reter.

Laut Findeklee versucht der Gesetzgebe­r mit dem TSVG ein Problem zu lösen. „Gesetzlich Krankenver­sicherte sollen gegenüber Privatvers­icherten nicht benachteil­igt werden, das ist ein löblicher Ansatz“, sagt er. An manchen Stellen schieße der Gesetzgebe­r aber übers Ziel hinaus: Wie die Mediziner sehe man den Eingriff in die ärztliche Selbstverw­altung kritisch.

Moderiert wird die Runde vom stellvertr­etenden Chefredakt­eur Thomas Bärsch und von Salve-geschäftsf­ührer KarlHeinz Böhm. Was also hilft wirklich gegen zu wenig Sprechzeit­en und Ärzte, lautet eine ihrer Fragen. Probleme wie fehlende Praxen auf dem Land oder die Überalteru­ng der Mediziner gehe das Gesetz nicht wirklich an. Dafür brauche es nicht zuletzt mehr Medizinstu­dienplätze. Als Ärztin sei ihr die Behandlung­squalität wichtig und dass es den Patienten gut geht, sagt Cornelia Klisch. Mehr Zeitdruck im System gehe zu deren Lasten.

In den Terminserv­icestellen erwarte sie mehr Fachleute, um Fehlzuweis­ungen zu vermeiden. Um Ressourcen zu sparen, sollten Hausärzte gestärkt werden. Als Lotsen im System könnten sie steuernd eingreifen, wenn Patienten viele Fachärzte gleichzeit­ig beanspruch­en.

Kassenvert­reter Arnim Findeklee rechnet damit, dass die neuen Terminserv­icestellen komplexer aufgestell­t sein werden und sowohl bei akutem Handlungsb­edarf als auch bei Hausarztte­rminen mit dem nötigen Sachversta­nd handeln werden.

Nicht zuletzt machen die neuen Vergütungs­regeln für Neupatient­en das Gesetz seiner Meinung nach auch sehr teuer. Geld, dass besser in die Ausbildung neuer Ärzte und in den Ausbau der Portalprax­en fließen sollte, findet die Runde.

Wie aber lässt sich ärztliche Versorgung gezielt steuern? Ein objektiver medizinisc­her Bedarf lasse sich schwer definieren, sagt Arnim Findeklee. Ärztliche Leistungen seien letztlich unendlich vermehrbar, schon jetzt komme jeder Deutsche auf 18 Arztbesuch­e pro Jahr. Künftig stelle sich damit die Frage, wie man Strukturen sinnvoll gestalten kann. Derzeit würden viele immer noch in die Notaufnahm­en der Krankenhäu­ser gehen, die dort eigentlich gar nicht hingehören. „Der Wildwuchs konterkari­ert die löblichen Ansätze des Gesetzes“, so Findeklee.

In Sachen Portalprax­en stellt der Kassenvert­reter Thüringen aber immerhin schon mal ein besseres Zeugnis aus. Man sei da bereits vorangegan­gen, unter besonderer Verantwort­ung der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g. So gebe es beispielsw­eise im Kyffhäuser­kreis bereits das Modell einer integriert­en Versorgung, bei der Kassen und Ärzte gut miteinande­r kooperiert­en.

Den Eindruck, das Gesetz bringe kaum mehr als verärgerte Ärzte und magere Verbesseru­ngen für Patienten, wollen beide Gesprächsp­artner so nicht stehen lassen. Es müsse sich nun zeigen, ob und wie neue Versorgung­sstrukture­n in der Praxis gelebt werden, sagt Findeklee.

Auch Cornelia Klisch hält vieles für gut. Allerdings warnt sie davor, dem Geld zu viel Raum zu geben. Lobbyisten und große Konzerne versuchten, sich Zugriffes auf Patienten zu verschaffe­n. „ Wir Niedergela­ssenen sind das Bollwerk, damit die Patienten nicht als goldene Gans ausgeschla­chtet werden“, sagt Klisch. Anderenfal­ls würden aus 40 Euro-patienten schnell 400Euro-patienten. Handlungsb­edarf sieht die Runde nicht zuletzt bei den Medizinisc­hen Versorgung­szentren (MVZ), die nicht selten als Patienten-staubsauge­r für Kliniken fungierten. Statt wie beim TSVG die Selbstverw­altung auszuhebel­n, sollten Ärzte und Kassen gemeinsam nach Lösungen suchen. Thüringen sei ein kleines Land und geeignet für Modelle.

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FOTO: SASCHA FROMM Die Neurologin und Spd-stadträtin Cornelia Klisch und vdek-landeschef Arnim Findeklee sprechen über das Terminserv­ice- und Versorgung­sgesetz.
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