Thüringer Allgemeine (Weimar)

Leben in der Nische

Fast 60.000 junge Vietnamese­n kamen als „Vertragsar­beiter“in die DDR, wo sie gebraucht wurden, aber nicht immer gewollt waren

- Von Elena Rauch

Erfurt. Fast könnte man sagen, die Geschichte wiederhole sich, sagt Ung Nguyen Thi. „Auch wenn die Rahmenbedi­ngungen heute andere sind, natürlich.“Die Entscheidu­ngsfreihei­t der jungen Menschen, die hatte es für sie damals nicht gegeben.

Eine riesige Herausford­erung werde es trotzdem, sagt sie. Die Ingenieuri­n und Sozialpäda­gogin hatte in den 1970er-jahren in der DDR studiert, 1987 kam sie als Betreuerin für die vietnamesi­schen Vertragsar­beiter nach Erfurt.

Etwa 60.000 junge Vietnamese­n hatte die Ddr-regierung damals ins Land geholt. In Thüringen lebten bis Anfang 1990 rund 5400 Vertragsar­beiter, da- von etwa 1500 in Erfurt. Das als „Bruderhilf­e“deklariert­e Projekt half in erster Linie der unter chronische­n Fachkräfte­mangel leidenden volkseigen­en Wirtschaft. Für die jungen Vietnamese­n wiederum war es eine einmalige Chance, die Familie zu unterstütz­en und zu einem bescheiden­en Wohlstand zu kommen. Viele hatten schwere Erfahrunge­n im Rücken, der Krieg lag noch nicht lange zurück, unter ihnen gab es ehemalige Soldaten, Witwen oder Kinder von Kriegsvete­ranen.

Eine Wanderauss­tellung, die als eine der wenigen nachträgli­chen öffentlich­en Foren das Leben der vietnamesi­schen Arbeiter in der DDR thematisie­rt, trägt den bezeichnen­den Titel „Als Arbeitskra­ft willkommen“. Die ungeschrie­bene Fortsetzun­g des Satzes lässt aus gutem Grund ein „Aber“vermuten. Denn es war ein Leben in der Nische. Ein Alltag zwischen Werkbank und Wohnheim, wo es pro Person fünf Quadratmet­er Wohnfläche gab. Für allgegenwä­rtige Kontrolle sorgte eine Vereinbaru­ng zwischen Mielkes MFS und den Amtskolleg­en in Hanoi. Wurde ein Frau schwanger, musste sie abtreiben oder nach Hause fahren.

Von den seelischen Nöten erfuhren die deutschen Kollegen wenig. Sprachunte­rricht blieb funktional auf den Arbeitsber­eich fokussiert, das erschwerte eine Kommunikat­ion. Die war abseits der vereinbart­en ohnehin nicht gern gesehen. So bleiben echte Kontakte rar.

Nach der Wende war die Arbeitskra­ft der jungen Vietnamese­n nicht mehr gewollt, die deutsche Regierung half der Rückkehrbe­reitschaft mit 3000 DM und einem Flugticket nach Hanoi nach. Die plötzlich aufkochend­e Fremdenfei­ndlichkeit erleichter­ten allerdings vielen die Entscheidu­ng, erinnert sich Ung Nguyen Thi.

Wer bleiben wollte, musste strenge Auflagen erfüllen, ein eigenes Einkommen und eine Wohnung waren Bedingung, auf staatliche Hilfe konnten sie nicht zählen. Etwa 15.000 schafften das in harter Selbstbeha­uptung, in Erfurt blieben rund 500 einstige Vertragsar­beiter. Viele hielten sich als Kleinhändl­er auf Märkten über Wasser oder gingen in die Gastronomi­e.

Inzwischen ist die zweite Generation erwachsen geworden, die dritte wächst heran. Für viele der Elterngene­ration gleicht die vietnamesi­sche Gemeinscha­ft zumindest in Teilen noch einer Insel, sagt Ung Nguyen Thi, die heute in Erfurt Flüchtling­e berät. Hauptprobl­em sei bis heute die deutsche Sprache.

Für ihre Kinder dagegen ist Thüringen zum Heimat geworden. Mit Blick auf sie wird gern das Superlativ vom „Integratio­nswunder“gebraucht. Tatsächlic­h machen zum Beispiel prozentual mehr junge Vietnamese­n ihr Abitur, als deutsche Schüler. Das hängt, vermutet Ung Nguyen Thi, mit dem hohen Stellenwer­t zusammen, den Bildung in vietnamesi­schen Familien hat.

 ?? FOTO: ELENA RAUCH ?? Hai Bluhm war Betreuerin für vietnamesi­schen Arbeiter in der DDR. Darüber hat sie eine Wanderauss­tellung kuratiert, die viel unterwegs ist.
FOTO: ELENA RAUCH Hai Bluhm war Betreuerin für vietnamesi­schen Arbeiter in der DDR. Darüber hat sie eine Wanderauss­tellung kuratiert, die viel unterwegs ist.

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