Thüringer Allgemeine (Weimar)

Geflohen vor Erdogans Richtern

Ein Hamburger Taxifahrer besucht seine Mutter in Anatolien. Eines Morgens stehen Soldaten vor der Tür der Familie und führen ihn ab

- Von Christian Unger

Hamburg. Es ist früh am Morgen, als Ilhami Akter wach wird und der Frieden in seinem Heimatdorf in Anatolien abrupt endet. Akters Mutter stürzt in sein Zimmer. „Hier sind überall Soldaten“, sagt sie aufgeregt. Vor der Tür des Hauses der Familie in den Bergen Anatoliens parken ihre Jeeps, einhundert Meter die Straße hoch steht ein gepanzerte­s Armeefahrz­eug, bewaffnet mit einem Maschineng­ewehr. So schildert Ilhami Akter diesen Augusttag im vergangene­n Sommer, als Soldaten der türkischen Armee einen Haftbefehl gegen ihn in der Hand halten, gezeichnet vom Oberstaats­anwalt der Provinzhau­ptstadt. Der Vorwurf: Terrorprop­aganda im Internet.

Die Soldaten durchsuche­n das Haus, beschlagna­hmen Handy und Laptop. „Zwei Soldaten haben mich am Arm gefasst und mich in den Jeep gebracht“, erzählt Akter. Läuft es schlecht, drohen ihm fünf Jahre Gefängnis. Ihm, dem Taxifahrer aus Hamburg, der längst nicht mehr Türke ist, sondern deutscher Staatsbürg­er. Doch jetzt ist er im Visier der türkischen Justiz. Als Ilhami Akter, heute 46 Jahre alt, an einem Nachmittag im März, zurück in Hamburg, seine Geschichte erzählt, wird er oft sehr ernst, wenn er über die Monate in der Türkei spricht. An dem Morgen der Festnahme fühlt er sich wie ein Schwerverb­recher. Halb nackt, halb wach steht er neben seiner Mutter vor der Tür, um ihn herum das Militär. Und er weiß gar nicht, was los ist. „Sie wollten, dass ich etwas unterschre­ibe“, erzählt Akter. Aber der Kurde weigert sich, fordert einen Anwalt. „Dann sind wir abgefahren auf die Wache.“

Akter war einen Monat zuvor von Hamburg in die Türkei geflogen, so wie er es mehrfach getan hatte in den vergangene­n Jahren. Seiner Mutter, schon 80 Jahre alt, geht es nicht gut. Das Knie schmerzt, sie braucht Me- dikamente und Hilfe im Haus. Der Vater schon tot, Akters Geschwiste­r leben wie er in Europa. Also hilft er. So war der Plan. Dann kamen die Soldaten.

Ilhami Akter erzählt, dass sie ihn auf die Wache in der nächsten größeren Stadt gefahren hätten. „Zwei Beamte in Zivil haben mich ins Verhör genommen.“Sie hatten einen Stapel Akten in der Hand und eine Pistole am Gürtel. Akter fordert einen Anwalt. Und er will, dass das deutsche Konsulat über seine Festnahme informiert wird.

Die Vernehmung sei sehr hart gewesen, sagt Akter. Vier Stunden stellen die Soldaten in Zivil Fragen, wollen wissen, ob er für kurdische Milizen arbeite. Ob er die verbotene kurdische Arbeiterpa­rtei PKK unterstütz­e. „Und sie wollten Namen, Namen, Namen“, sagt Akter. Immer wieder habe er seine Hilfe für die PKK zugeben sollen. „Beweist es mir“, habe Akter immer wieder geantworte­t. „Ich habe mich wie eine Geisel gefühlt.“Am Nachmittag wird er der Haftrichte­rin vorgeführt. Sie zeigt Akter Fotos von seiner Facebook-seite.

Es sind offenbar mehrere Bei- träge auf Facebook, aus denen die türkischen Strafverfo­lger Akters „Terrorprop­aganda“erkennen will. Es sind nach Angaben Akters und dessen Anwalts Erdogan-kritische Beiträge mit Artikeln aus deutschen Onlineseit­en und kurdischen Medienkanä­len. Auf einem Foto zu einem Artikel soll zudem der Pkk-führer Öcalan zu sehen sein, ein Bild zu einem Bericht über eine Kurden-demonstrat­ion in London, sagt Akter. Öcalan ist Anführer der PKK und seit Jahren inhaftiert. Die Richterin sperrt ihn in Untersuchu­ngshaft.

Einen Monat ist Akter im Gefängnis. Zwei Dutzend Männer schlafen in Doppelstoc­k-betten, es gibt einen Raum mit Fernseher und Stühlen, morgens gibt es Käse oder Marmelade zum Brot, mittags und abends Reis mit Linsensupp­e oder Bohnensupp­e. Im Prozess Mitte September 2018 sieht der türkische Richter den Vorwurf der „Terrorprop­aganda“im Internet als erwiesen an. Akter wird zu drei Jahren und anderthalb Monaten Haft verurteilt. Wegen mehrerer Beiträge auf Facebook.

Schon einmal ist Ilhami Akter aus der Türkei nach Deutsch- land geflohen. Es ist das Jahr 1990, als der Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK gerade einen Höhepunkt erlebt. Bei Kämpfen zwischen bewaffnete­n kurdischen Milizen und dem Militär sterben mehrere Tausend Menschen. In den Jahren danach werden es Zehntausen­de sein. Die türkische Armee bombardier­t Dörfer, die kurdische PKK verübt Anschläge. Ein Land im Ausnahmezu­stand.

Auch in Hamburg kämpft Ilhami Akter als junger Migrant viele Jahre für die Rechte der Kurden, organisier­t Demonstrat­ionen, marschiert mit, nicht selten in der ersten Reihe. 2006 macht er sich selbststän­dig als Taxifahrer, arbeitet oft nachts, schläft am Tag. Das Politische war immer noch Teil seines Lebens – aber es wurde weniger wichtig.

Doch im Sommer sitzt er auf einmal in türkischer Haft. Nach dem Prozess kommt er noch einmal frei, weil sein Anwalt Revision gegen das Urteil einlegt. Die türkischen Behörden verhängen eine Ausreisesp­erre. Es ist die Zeit, in der Kurden in Hamburg und Freunde von Akter für ihn kämpfen. In der Türkei aber bereitet Akter seine Flucht vor. Er nimmt Kontakt zu Schleusern auf, zahlt ihnen 3000 Dollar. Seiner Mutter sagt er nicht, dass er fliehen will. Anfang Januar steigt Akter in einen Bus in Richtung türkisch-georgische Grenze. Dort warten zwei Männer. In der Dunkelheit stapfen sie über die Berge und durch den Wald. „Sie haben nur gesagt, dass ich nicht husten soll“, erzählt Akter. Am nächsten Tag, es ist der 9. Januar 2019, kommt Akter vor dem Haus der deutschen Botschaft in Tiflis an – und mithilfe der deutschen Botschaft nach Hamburg.

Neun Monate war Ilhami Akter weg aus Hamburg. Er sagt, er habe 40.000 Euro Schulden, weil er nicht arbeiten konnte, seinen Anwalt bezahlen musste, die Schleuser, die Miete, das Hotel in Georgien, die Strafe. Am Tag nach seiner Rückkehr schaut er nach seinem Taxi. Er bringt es in die Werkstatt, die Batterie war leer, ein Reifen platt. Jetzt sitzt Ilhami Akter wieder am Steuer.

Zwei Dutzend Männer in Doppelstoc­kbetten

 ?? FOTO: R. MAGUNIA/FUNKE ?? Seit vielen Jahren arbeitet der Kurde Ilhami Akter als Taxifahrer in Hamburg. Er will vor allem eines: schnell wieder einen Alltag finden.
FOTO: R. MAGUNIA/FUNKE Seit vielen Jahren arbeitet der Kurde Ilhami Akter als Taxifahrer in Hamburg. Er will vor allem eines: schnell wieder einen Alltag finden.
 ?? FOTO: PRIVAT ?? Ilhami Akter und seine Mutter in Hamburg. Noch wissen sie nicht, wie es weitergeht.
FOTO: PRIVAT Ilhami Akter und seine Mutter in Hamburg. Noch wissen sie nicht, wie es weitergeht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany