Thüringer Allgemeine (Weimar)

Viele Auslieferu­ngsverfahr­en eingefrore­n

Türkei schreibt Regimekrit­iker mit Standardvo­rwurf Terrorismu­s zur Fahndung bei Interpol aus

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Ob ein Mensch an die Türkei ausgeliefe­rt wird, darüber befindet immer das örtlich zuständige Oberlandes­gericht. Die letzten Entscheidu­ngen stammen aus dem Jahr 2017. Danach wurde keiner mehr ausgeliefe­rt. Zu groß und wohl nicht ganz unbegründe­t war die Sorge, dass die türkischen Behörden nur einen Vorwand suchen, um Kritiker der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan „im Ausland massiv zu verfolgen“, wie die Linken-abgeordnet­e Sevim Dagdelen glaubt.

Die Zahl der Auslieferu­ngsverfahr­en ist seit dem Putschvers­uch im Juli 2016 nicht relevant gestiegen. 2015 lag sie bei 66, ein Jahr später bei 63 (23 nach dem Putschvers­uch), 2017 betrug sie 76, im vergangene­n Jahr 64, zwölf in Januar und Februar dieses Jahres. 2017 waren zehn Auslieferu­ngen bewilligt und 19 abgelehnt worden – seither sind viele Verfahren wie eingefrore­n, sie wurden nicht abgeschlos­sen. Mehrheitli­ch geht es um die üblichen Delikte, Diebstahl, Tötung, Betrug, Fälschung. Stutzig wird man erst, wenn der Terrorvorw­urf erhoben wird.

Für Erdogan ist klar, wer hinter dem gescheiter­ten Militärput­sch steckt: Fethullah Gülen, einstiger Freund, heute Staatsfein­d Nummer eins. Wer bloß Kontakt zur Gülen-bewegung hat, wird wie ein Schwerverb­recher behandelt. Für die EU ist die Gülen-bewegung allerdings keine Terrororga­nisation.

Immer wieder lässt die Türkei vermeintli­che Verdächtig­e weltweit über Interpol zur Fahndung ausschreib­en, seit 2016 immer- hin 990-mal, wie aus der Antwort einer parlamenta­rischen Anfrage der Linke-fraktion hervorgeht, die unserer Redaktion vorliegt. In 925 Fällen wollten die Türken eine Festnahme (im Fachjargon: „red notice“) erwirken, in 65 Fällen den Aufenthalt­sort des Gesuchten („blue notice“) ermitteln lassen.

Beim Bundeskrim­inalamt (BKA) werden die Anfragen geprüft. In wie vielen Fällen die Behörden dem Antrag der Türkei gefolgt sind, sagt sie nicht. Nur so viel: Die „deliktisch­en Schwerpunk­te“lägen in den „Phänomenbe­reichen Terrorismu­s, Drogen- und Tötungsdel­ikten“. Wohlgemerk­t: An erster Stelle steht der Terrorvorw­urf. Ein Haftbefehl ist die Voraussetz­ung für einen Antrag auf Auslieferu­ng. Zur Festnahme über Interpol war auch der nach Deutschlan­d geflohene Journalist Can Dündar ausgeschri­eben, der 2015 der Spionage angeklagt, am 6. Mai 2016 der Veröffentl­ichung von Staatsgehe­imnissen für schuldig befunden wurde. (san)

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