„Das Land hängt sich an mich wie eine Klette“
Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat keinen neuen Roman geschrieben, dafür aber ihre Collagen veröffentlicht
Erfurt. Als Herta Müller 2017 Gast der Erfurter Herbstlese war, da empfing sie im ausverkauften Kaisersaal ein dankbares Publikum. Die Literaturnobelpreisträgerin ihrerseits holte mit ihren Erfahrungen aus der Diktatur die Besucher schon in den ersten fünf Minuten ab, als sie von der Auswanderung der deutschen Minderheit aus dem kommunistischen Rumänien berichtete. „Wenn man nicht reisen kann, dann wird der Wunsch so komisch. Das kennt man hier auch.“In den Reihen des Kaisersaals nickten die Besucher zustimmend.
Auf Zustimmung stießen damals auch jene literarischen Wundertafeln, die am Ende der Gesprächsrunde gezeigt wurden: Nach anderthalb Stunden stellte Herta Müller ihre Collagen vor, mit denen sie in den 1990er-jahren begonnen hatte. Es war eine postkartengroße Sammlung von ausgeschnittenen und neu zusammengefügten Wörtern. Eine Art von Gedicht.
Offenbar war das eine Überraschung für die Autorin: Dass der Reim wie ein kleiner Motor sein kann, das habe sie erst von der Berliner Schriftstellerin Inge Müller gelernt. Bis dahin sei ihr der Reim durch die kommunistische Propaganda vergällt gewesen. Erst spät habe sie verstanden: „Der Reim ist nicht schuld, sondern der Inhalt der Zeile.“
Die Collagen, die im Kaisersaal auf eine Leinwand projiziert wurden, waren ironisch, manchmal sarkastisch. Jetzt kann man diese Zettelwirtschaft in einem Buch mit dem melancholischen Titel „Im Heimweh ist ein blauer Saal“bewundern. Denn tatsächlich sind die Collagen auf Karteikarten entstanden, wie Herta Müller im Vorwort des Buches berichtet: „Kurz nachdem ich aus Rumänien kam, war ich viel unterwegs. Ich wollte mich bei Freunden melden und suchte in den Orten, wo ich gerade war, nach Postkarten. Aber auf den schwarz-weißen Karten standen dümmliche Sprüche, die witzig sein wollten. Und die Ansichtskarten hat- ten so grässlich missratene Farben...“Als sie die weißen Karteikarten erstanden hatte, schnitt sie aus Zeitungen und Illustrierten Fotos und Wörter heraus: „Auf eine Karte klebte ich dann das Bild und ein paar Wörter: DAS STÖRRISCHE WORT ALSO, oder WENN ES EINEN ORT WIRKLICH GIBT STREIFT ER DAS VERLANGEN, oder DIE TASCHENDIEBIN DIE BIN ICH.“
Das klingt wie ein Puzzle oder eine Spielerei. Auf den ersten Blick sieht die Sammlung wie ein Erpresserbrief aus. Doch dann erschließen sich die poetischen Geheimnisse. Es ist es eine Kollektion von Wörtern, die die Autorin klug ausgewählt hat – als ob ein Adler lange über dem „Wörtersee“gleitet und geduldig darauf wartet, dass das schönste Wort zur Beute wird. Aneinander gereiht, ergibt dies eine reiche Ernte.
Inhaltlich drehen sich diese Collagen um die alte Heimat, die Kindheitserinnerungen, aber auch den Verlust durch das Hinfortgehen. So sieht man auf einer Schnipselansicht einen Zaun, womöglich elektrisch geladen. Darunter steht der Satz: „In einem Land hat der Wind eine Pfeife im Mund im anderen eine Treppe im Haar die nie eine war das hat nichts zu tun mit Heimat die Grenze ist ein gewebter Stoff aus Draht das Schicksal riecht nach altem Pelz und schmeckt nach kaltem Zufall.“Auch wenn diese Collage keine Satzzeichen enthält, so blinken Signalwörter wie Heimat, Draht und Grenze auf, die die Entschlüsselung erleichtern. Wenn das Verlangen nach der Erinnerung zu groß geworden ist, dann könnte das so klingen: „Das Land hängt sich an mich wie eine Klette mein Verstand ist leer als ob darin ein Hemd im Wind getrocknet wär“. Ein paar Seiten weiter findet man diesen Satz: „In der Melancholie sitzt das Chamäleon aus dunklem Samt, erzähl nie wie kalt seine Schnauze ist wenn es dir aus der Hand frißt“. Man sieht es fast vor sich, ein vom Gift der Verklärung zahm gewordenes Wesen, das bei genauer Betrachtung zu einer geistigen Erschütterung führt, die einen frösteln lässt. Was für ein dramatisches Bild. Mitunter muss man die Texte auch gar nicht decodieren, wie dieses Beispiel zeigt: „Zuletzt fragte der Polizist was meine Eltern machen ich sagte dunklen Mokka trinken Radio hören und den Schnee anlachen“. Es könnte die Antwort eines trotzigen Kindes sein. Es könnte auch die Antwort gegenüber dem Geheimdienst sein. In jedem Fall spricht daraus eine Verweigerungshaltung – klug und spöttisch formuliert. Fast am Ende des Buches taucht ein politischer Satz auf, der schon bei der Lesung in Erfurt zu hören war: „Mein Vaterland war ein Apfelkern man irrte umher zwischen Sichel und Stern“.
Herta Müller sieht in ihren Collagen den intensivsten „Kontakt mit Sprache, weil man jedes Wort einzeln anfassen muss. Überhaupt ist diese Arbeit sinnlich. Und sie ähnelt in vielem dem wirklichen Leben: der Zufall, durch den sich die Wörter treffen.“