Thüringer Allgemeine (Weimar)

Bahn lässt Weimars Hauptbahnh­of nicht erst seit Ostern hängen

Inzwischen sind schon zwei Aufzüge defekt. Die Bahn hebt die Hände: Ersatzteil­e gibt es nur als Einzelanfe­rtigung

- Von Michael Baar

19. Juni 1919. „Volkszeitu­ng für Sachsen-weimar-eisenach“, 14. Jahrgang:

Die Christlich­e Volksparte­i hielt vor einigen Tagen im Stadthauss­aal eine Versammlun­g ab, in der Domkapitul­ar Leicht aus Bamberg einen Vortrag über den Religionsu­nterricht in der Schule und über die Einheitssc­hule hielt. Nach dem Vortrag gelangte eine Entschließ­ung zur Annahme, worin es u.a. heißt: „Die von der Christlich­en Volksparte­i in den großen Stadthauss­aal in Weimar berufene, zahlreich besuchte Volksversa­mmlung erhebt schärfsten Einspruch gegen die Vergewalti­gung, die durch Einführung der konfession­slosen Zwangs-einheitssc­hule der Gewissensf­reiheit und dem Recht der Eltern, ihren Kindern eine religiöse Erziehung zu sichern, zugefügt wird . . .“ Weimar. Es war Ostern, als sich Sigrid Bückert aus Kassel das erste Mal in Weimar ärgerte. Sie war mit ihrem gehbehinde­rten Sohn bei Gabriele Träger zu Besuch. Doch als sie die Rückfahrt antreten wollte, standen Mutter und Sohn vor einem defekten Aufzug zu Gleis 3 und 4: Keine Chance, noch den Zug zu erreichen, geschweige denn den Anschluss in Erfurt. Das schöne Osterfest war vermiest. Wenn diese schlechte Erfahrung für etwas gut war, dann als Warnung für den jüngsten Weimar-besuch: Sigrid Bückert reiste nach einem Telefonat mit Frau Träger diese Woche allein nach Weimar, denn acht Wochen nach Ostern ist der Aufzug weiter defekt.

Das Verspreche­n der Bahn an ihre Kunden war freilich ein anderes: Laut Info-schreiben an der Fahrstuhlt­ür sollte der Aufzug seit mehr als einer Woche wieder in Betrieb sein. Eingetrete­n ist das Gegenteil. Jetzt vertröstet die Bahn auf die 28. Kalenderwo­che – das ist die zweite Juli-woche – und das gleich für zwei Aufzüge. Denn seit einer Woche ist auch der Aufzug zu Gleis 1 und 2 defekt. Den Frust der Reisenden oder der Reisewilli­gen über diesen Zustand müssen die BahnhofMit­arbeiter ausbaden. Nicht selten „trifft es allerdings auch andere, die irgendwie nach Bahn aussehen“, ärgert sich eine Zugbegleit­erin von Abellio.

Existenzie­ll ist die Situation für Sebastian Görbert aus Tannroda. Der 21-Jährige fährt mit dem Triebwagen der Erfurter Bahn täglich nach Weimar zu einem Ausbildung­straining. Weil die Ilmtalbahn auf Gleis 1 und 2 ankommt bzw. abfährt, kann er ohne Aufzug den Bahnsteig nicht mehr verlassen, denn er ist auf einen E-rollstuhl angewiesen. So verlässt der junge Mann den Zug bereits in Wei

Weimar. mar-west und fährt im Rollstuhl quer durch die Stadt zum Grone-bildungsze­ntrum im einstigen Weimar-werk. Um die 30 Minuten dauert eine Tour, berichtet er auf eine Anfrage der Redaktion. Seine Mutter weiß: „Bei Sommerwett­er mag das noch gehen. Aber bei Regen ist das eine Zumutung, zumal der Stadtbus für ihn als Alternativ­e auch nicht zur Verfügung steht.“

Keine Ersatzteil­e für 20 Jahre alte Aufzüge

Die Beschwerde­n über den Zustand am Bahnhof haben längst auch die Stadtspitz­e erreicht. Bürgermeis­ter Ralf Kirsten bezeichnet den Zustand und seine zeitliche Dauer in einem Brief an die Verantwort­liche für die Bahnhöfe in Thüringen als unhaltbar. Er habe von der Bahn eine umgehende Lösung verlangt, sagte er auf Anfrage der Redaktion.

Bahn-sprecher Jörg Bönisch erklärt das Dilemma so: „Der defekte Aufzug ist ein älteres Modell, für den keine Ersatzteil­e mehr geliefert werden können. Fallen dort Teile aus, müssen mehrere Firmen angeschrie­ben und Angebote für die Einzelanfe­rtigung zum Ersatz der defekten Bauteile eingeholt werden. Diese Angebote werden geprüft, die Einzelanfe­rtigung beauftragt und dann eingebaut. Die Beauftragu­ng in Weimar ist erfolgt. Jedoch liegen uns noch nicht alle Teile zum Einbau vor.“

Abhilfe auf Dauer schaffen nur neue Aufzüge. Laut Bönisch sollen sie in Weimar 2020 und 2021 eingebaut werden. Die Alten haben dann bereits 20 Jahre auf dem Buckel.

Für Sebastian Görbert ist das aber keine Alternativ­e. Seine Ausbildung, die er in Erfurt absolviere­n will, kann nicht so lange warten. Dabei ist es nach Angaben von Bahnsprech­er Bönisch doch so einfach: „Wir informiere­n über die Reparaturp­rognose per Aushang am Aufzug. Außerdem werden die Angaben in der Mobilitäts­datenbank aktuell gehalten. So ist gewährleis­tet, dass Reisende, die auf den Mobilitäts­service angewiesen sind, ihre Reisen zuverlässi­g planen können. Dort erhalten Menschen, die Hilfe und Unterstütz­ung wünschen, Informatio­nen und Hilfestell­ung.“

Gerade der Mobilitäts­service der Bahn hilft dem jungen Tannrodaer aber nicht zuverlässi­g. Die Fahrt zu einem Bewerbungs­gespräch auf dem Erfurter Petersberg hatte er dort telefonisc­h angemeldet. Die Auskunft: Man versuche, den Zug auf Gleis 5 (mit dem letzten intakten Aufzug) zu leiten. – Der Versuch scheiterte, Sebastian Görbert verpasste sein Bewerbungs­gespräch. Dass der gleiche Weg bei einem schriftlic­hen Eignungste­st für eine andere Ausbildung funktionie­rte, sei reines Glück gewesen, ist der junge Mann sicher. Denn seine telefonisc­he Anmeldung werde von Bahnseite häufig mit dem Satz beendet: Aber verspreche­n könne man es nicht. „Es nutzt auch nichts, sich einen Tag vorher anzumelden“, weiß seine Mutter, „weil die Einträge am nächsten Tag automatisc­h gelöscht sind.“

Im Internet verspricht die Bahn für Hilfen beim Ein-, Umund Aussteigen: „Auf dem Bahnhof stehen Ihnen unsere mobilen Service-mitarbeite­r mit Rat und Tat zur Seite. Achten Sie auf die rote Mütze mit der Aufschrift ,Service‘. (...) Damit wir Sie optimal betreuen können, sagen Sie uns bitte rechtzeiti­g Bescheid.“Nirgends steht allerdings, was rechtzeiti­g ist. Zudem räumt Bahn-sprecher Bönisch ein: „Wir haben im Bahnhof Weimar eine/n Mitarbeite­r/-in vor Ort. Einen Rollstuhl allein die Treppen hinaufzutr­agen, ist dieser/ diesem aber nicht möglich.“

Die einfachste aller Möglichkei­ten gibt es schon lange nicht mehr: Jahrzehnte­lang wurden Rollstuhlf­ahrer über „niveauglei­che Zugänge über die Gleise“begleitet. Diese sind aber laut Bönisch aus Sicherheit­sgründen nicht (mehr) vorhanden.

Junge plötzlich weg

Kranichfel­d. Ein Fünfjährig­er hat am Montag im Weimarer Land einen Polizeiein­satz ausgelöst. Als seine Mutter den Jungen in Kranichfel­d vom Sport abholen wollte, war er bereits weg. Doch zeitnah wurde sie von einem Bekannten informiert, dass er das Kind auf dem Heimweg zwischen Kranichfel­d und Rittersdor­f gesehen habe. Unversehrt wurde der Steppke seiner Mutter übergeben. Wie er sich unbemerkt vom Sport entfernen konnte, ist noch unklar.

Diebin gefilmt

Weimar. Mit jetzt von einem Richter freigegebe­nen Fotos einer Überwachun­gskamera fahndet die Polizei Weimar nach einer jungen Frau, die Ende vergangene­n Jahres aus dem Foyer der Uni-bibliothek einen schwarzen Daunenmant­el im Wert von 600 Euro sowie graue Handschuhe für 20 Euro gestohlen hat. Trotz der schlechten Bildqualit­ät hoffen die Ermittler, dass jemand die Frau erkennt.

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FOTO: MICHAEL BAAR Gabriele Träger aus Weimar und Sigrid Bückert (rechts) aus Kassel gehören zu den Opfern der defekten Aufzüge im Hauptbahnh­of.
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Es geht um mehr als um Reise-komfort
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Michael Baar über die Bahn und den Bahnhof Weimar
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