Thüringer Allgemeine (Weimar)

Arie aus dem Fenster

Musiker machen Nachbarn und alten Menschen in der Corona-krise Mut

- Von Rana Moussaoui und Stephanie Lob

Paris/amsterdam/rom. Jeden Abend um 19 Uhr tritt der Opernsänge­r Stéphane Sénéchal in Paris an sein Fenster und stimmt ein Lied an. Eine Arie aus „Carmen“, ein Stück von Edith Piaf oder „Ave Maria“. „Es ist ein kleiner Moment der Freiheit, der Realitätsf­lucht“, sagt der Tenor.

Wie er musizieren derzeit viele Menschen für Nachbarn oder alte Menschen und setzen damit ein Zeichen in der Corona-krise.

Konzerte und der Eurovision Song Contest sind wegen der Pandemie abgesagt. Stattdesse­n treten in ganz Europa Musiker auf ihre Balkone oder an ihre Fenster, tausende stellen Videos mit Hausmusik in die Online-netzwerke. „Quarantäne-konzerte“boomen in Ländern, die eine Ausgangs- oder Kontaktspe­rre haben.

„Den ganzen Tag lang hört man nur Tragisches und von noch mehr

Toten“, sagt der Tenor Sénéchal. „Wenn ich sehe, wie mein Gesang die Menschen zum Lächeln bringt, macht mir das einfach Freude.“

Zum Weitermach­en habe ihn unter anderem ein Covid-19-kranker ermutigt, der ein Video von ihm im Internet entdeckt habe, sagt der Sänger. „Jetzt aufzuhören wäre falsch“, meint Sénéchal deshalb.

„Bach auf dem Balkon“heißt eine andere Initiative. „Bach ist ein sehr guter Begleiter, mit seiner Musik ist man nie alleine“, sagt die in Paris lebende Us-bratschist­in Sarah Niblack über den deutschen Komponiste­n. In Paris, Straßburg oder Lille spielen sie und andere Orchesterm­usiker Stücke von Johann Sebastian Bach.

Magische Momente auch mit Hits von Elvis

Das ist für die Musikerin nur ein kleiner Ersatz für die vielen ausgefalle­nen Konzerte: Alleine Niblack wurden sechs Engagement­s bei verschiede­nen Orchestern gestrichen.

„Wir können uns zwar nicht in Krankenhäu­sern nützlich machen, aber mit der Musik können wir das Leben der Menschen ein bisschen bereichern“, sagt die Musikerin.

„Magisch“findet solche Momente auch der deutsche Kontrabass­ist Felix Hildenbran­d, der seit 20 Jahren in Amsterdam lebt. Sein neues Projekt: Er spielt für Senioren, die weitgehend isoliert sind. Dafür hat der studierte Jazz-musiker sein Repertoire erweitert und das Instrument gewechselt: Er baut sich mit Gitarre und Verstärker auf der Straßensei­te gegenüber von einem Altenheim auf und singt Hits von Elvis Presley bis Dean Martin.

„Das kommt super an“, erzählt der 44-Jährige aus Freiburg im Breisgau. „Die alten Menschen stehen am Fenster, winken, schicken Kusshände und sind unheimlich dankbar, dass sie jemand aus ihrem grauen Alltag holt.“

Mit Hilfe einer Altenpfleg­erin hat Hildenbran­d erste Straßen-auftritte organisier­t. Sein nächstes Ziel sind Konzerte in holländisc­hen Dörfern.

Doch nicht nur Profimusik­er sind aktiv: In Italien, das besonders hart vom Coronaviru­s getroffen ist, verabreden sich regelmäßig Menschen in den Online-netzwerken zum abendliche­n Musikmache­n am Fenster. In Rom oder Mailand stimmen sie zusammen Schlager wie „Grazie Roma“oder „Azzurro“an, auch in der spanischen Hauptstadt Madrid haben viele Menschen die Musik aus den eigenen vier Wänden auf den Balkon verlegt.

Trotz all der guten Laune bleiben die existenzie­llen Sorgen der Künstler bestehen. Hildenbran­d ist ein wenig abgesicher­t: In den Niederland­en werden freischaff­ende Musiker in der Corona-krise drei Monate lang aus öffentlich­en Geldern unterstütz­t, ähnlich wie in Deutschlan­d. „Die große Frage ist, was danach kommt“, sagt der Musiker. „Es ist eine Krise, wie wir sie noch nicht erlebt haben. Wir müssen hoffen, dass die Kultur das überlebt.“afp

 ?? FOTO: PHILIPPE LOPEZ / AFP ?? Der französisc­he Tenor Stéphane Sénéchal singt aus seinem Pariser Fenster. Die Nachbarn neben und über ihm lauschen mit sichtliche­m Entzücken. So wie hier muntern Sänger und Musiker überall in Europa ihre Mitbürger auf.
FOTO: PHILIPPE LOPEZ / AFP Der französisc­he Tenor Stéphane Sénéchal singt aus seinem Pariser Fenster. Die Nachbarn neben und über ihm lauschen mit sichtliche­m Entzücken. So wie hier muntern Sänger und Musiker überall in Europa ihre Mitbürger auf.

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